SCHREIBWEISEN-PODCAST

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„Mir gefällt das Flüchtige, das einen kurz streift“

Schreibweisen-Podcast,Schreibweisen-Blog
Claudia Vamvas

Seit 2011 twittert Claudia Vamvas unter @akkordeonistin aus einem durch St. Gallen fahrenden Bus. In ihrem Account sammelt sie in ihren alltäglichen Beobachtungen. Mit bald 15.000 Follower*innen ist sie eine der am meist gelesenen Schweizer Twitter-Autor*innen. 2016 erschien im Berliner Frohmann Verlag ihr Buch Sitze im Bus und 2017 erhielt sie den Förderungspreis in der Sparte Literatur der Stadt St. Gallen. Auf ihren Lesungen trägt sie ihre Mikrotexte, Kürzestprosa und Kurzgeschichten vor und begleitet sich selbst auf dem Akkordeon.

Eigentlich hatten wir Claudia Vamvas im Mai für eine Lesung nach Greifswald eingeladen. Unsere Pläne wurden jedoch von der Corona-Pandemie durchkreuzt. Die Lesung konnte genauso wenig stattfinden wie ein anschließendes Gespräch für den Schreibweisen-Podcast (auf unserer Website, auf Spotify und Castbox verfügbar). Zumindest dieses Gespräch haben wir jetzt in schriftlicher Form nachgeholt. Die Schweizer Rechtschreibung in Vamvas' Antworten haben wir beibehalten. Die Fragen stellte Magdalena Pflock.
#übergegenwartsprechen

Wie ist dein Setup zum Schreiben? Schreibst du wirklich mit dem Smartphone direkt aus dem Bus? 
Die meisten meiner Bus-Tweets habe ich im Bus ins Smartphone getippt. Fast alle Tweets entstehen direkt nach einer Beobachtung oder einem Erlebnis – sofern es die Umstände erlauben. Andere Texte schreibe ich gerne noch von Hand in ein Heft. 

Auf Twitter schreibst du, dass du wegen des Coronavirus zur Zeit nicht mehr mit dem ÖPNV fährst.
Seit rund sieben Wochen arbeite ich von zu Hause aus. In dieser Zeit bin ich nur noch einmal Zug und Bus gefahren.

Fehlt dir dadurch eine Inspirationsquelle?
Ja, die Inspiration fehlt mir sehr: Ich streife zwar gerne durch Wiesen und Wälder, aber ebenso brauche ich es, an einem belebten Platz einen Kaffee zu trinken, Menschen zu beobachten, Gesprächsfetzen aufzuschnappen.

Wie nimmst du die Zeit seit Ausbruch der Pandemie als verändert wahr? Deine aktuellen Tweets enthalten oft Fotos deiner Spaziergänge und liefern in meiner sonst oft eher hektisch wirkenden Timeline kleine Momente zum Innehalten. Begreifst du die Zeit als eine Entschleunigung? 
Als im Viertelstundentakt Schlagzeilen über Grenzschliessungen oder Lockdowns aus fast ganz Europa erschienen, legte mich das rasende Tempo erst einmal lahm. Etwas später – als die Welt stillzustehen schien – erwachte ein grosser Bewegungsdrang in mir. Mein eigenes Tempo scheint sich asynchron zu jenem der Welt zu verändern.

Lässt du einen Tweet ruhen und feilst an ihm, oder veröffentlichst du ihn in dem Moment, in dem er entstanden ist? 
Siehe Antwort 1.
Als Korrektorin achte ich darauf, dass der Tweet keinen Tippfehler enthält und jedes Komma an der richtigen Stelle steht. Ansonsten feile ich nicht besonders lange daran. Dazu bin ich auch etwas zu ungeduldig. 

Du schreibst vor allem auf Twitter. Wie nimmst du diesen sozialen Raum wahr? 
Es ist noch immer ein sehr dynamischer Ort, er hat sich aber in den letzten Jahren sehr verändert. Als ich neu bei Twitter war, erlebte ich viele Posts als sehr individuell, originell und authentisch. Es kamen neue Generationen von Twitternden, Tweets glichen sich an, vieles wiederholte sich. In den letzten zwei, drei Jahren ist Twitter viel politischer geworden. Es gibt weniger feinen Humor und mehr Schlagabtausch. 

Wie beeinflusst dich Twitter beim Schreiben? Hat es Einfluss auf deine Ausdrucksweise? 
Ausser Tweets habe ich in den letzten Jahren nur kurze Texte geschrieben. Twitter hat mich insofern beeinflusst, als ich mit Twitter über Jahre geübt habe, etwas mit wenigen Worten auszudrücken. Das Schönste ist, wenn sich ein solcher Satz bei den LeserInnen wieder zu einer ganzen Geschichte entfaltet.

Was schätzt du besonders an Twitter? 
Ich habe tolle Menschen kennengelernt. Einige wurden zu Freunden.
Mir gefällt aber auch das Flüchtige, das einen nur kurz streift: Wenn ich Lust habe, öffne ich Twitter, lese ein paar Tweets, interagiere – oder auch nicht – und mache mich wieder aus dem Staub, wenn ich genug davon habe.

Hast du das Gefühl, dass deine Tweets nur für den kurzen Moment geschrieben werden, in dem sie in der TL deiner Follower auftauchen? 
Ursprünglich ging ich davon aus. Als im Frohmann Verlag mein Buch «Sitze im Bus» mit Beobachtungen aus dem Bus erschien, stellte ich fest, dass sie auch länger Bestand haben.

Von Twitter zum Buch: Welche Gedanken machst du dir, wenn es darum geht, deine Tweets in einem Buch zu veröffentlichen? Verändert sich dein Anspruch an deine Texte? 
Bei «Sitze im Bus» habe ich bewusst nichts geändert, ausser ein fehlendes Komma ergänzt oder ein überflüssiges Wort gestrichen. Ich wollte die Tweets gerne so lassen, wie sie entstanden sind.
An einen längeren Text habe ich andere Ansprüche: mehr Arbeit am Text, ein Konzept usw. Ich habe in den letzten Jahren verschiedene kurze Texte geschrieben, habe aber festgestellt, dass mir ganz kurze Sätze in Tweetlänge am besten liegen.

Vom Buch zur Lesung/Performance: Auf Twitter und auch bei Lesungen bekommst du sofort die Resonanz von deinem Publikum. Nimmst du dabei Unterschiede wahr? Welchen Einfluss hat diese Art von Feedback auf dich? 
Die Unterschiede sind gar nicht so gross. Auf Twitter wird gelikt und retweetet, die Zuschauer klatschen oder empfehlen mich manchmal weiter.
Twitter hat mich allerdings verwöhnt. Vor etwa zwei Jahren habe ich mit einem längeren Text begonnen und festgestellt, dass mir die unmittelbaren Reaktionen, die ich auf Twitter erfahre, fehlen. In dieser Zeit kam die Anfrage eines kleinen Theaters, dort einen Abend zu gestalten. Daraus entstand ein kleines Bühnenprogramm aus Tweets, kurzen Prosatexten und Musik. 
Als ich merkte, dass es mir auf der Bühne gefällt, habe ich das Programm noch etwas ausgebaut und den Text zur Seite gelegt.

Würdest du sagen, dass sich durch Twitter (und andere soziale Medien) deine Zeitwahrnehmung innerhalb der letzten 20 Jahre verändert hat? 
Ich möchte diese Frage mit einem Tweet beantworten: 
«Kennt ihr das auch, dass ihr eben noch mit etwas beschäftigt wart und euch dann plötzlich mit dem Smartphone in der Hand auf dem Sofa wieder findet, ohne Erinnerung, wie ihr da hin gekommen seid?»

Hat sich die Gegenwart in den letzten zwanzig Jahren strukturell verändert? Manche, wie Hans Ulrich Gumbrecht, behaupten, sie sei breiter geworden: Gegenwarten und Vergangenheiten würden sich stärker überlagern. Empfindest du das auch so? 
Ich bin mir sicher, dass selbst das ausgeschaltete Smartphone mit seinen potenziellen Möglichkeiten unsere Gegenwart verändert hat.

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