Schon im ersten literaturwissenschaftlichen Versuch über Twitter, Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen aus dem Jahr 2013, haben Sandra Annika Meyer und Jan Drees auf eine entscheidende Sache verwiesen: Wer auf Twitter schreibt, hat kein leeres Blatt Papier vor sich, sondern ist mit einer unendlich erscheinenden Menge an Text konfrontiert. Der Konzeptkünstler und -autor Kenneth Goldsmith, auf den die beiden verweisen, hat das in Uncreative Writing (2011, dt. 2017) so formuliert: „Mit dem Aufstieg des Internets hat das Schreiben seine Fotografie gefunden.“ Das, was man am besten zu können glaubt, nämlich Text zu produzieren, wird jetzt durch eine technische Instanz beziehungsweise eine Vielzahl weiterer Schreibender erledigt. Das mag für Autor*innen und das literarische Schreiben stimmen oder nicht, für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Twitter ist es in jedem Fall eine Herausforderung, mit den Textmengen umzugehen, die auf Twitter publiziert werden. Durch das Wegfallen von Gatekeeper-Instanzen, deren Vorschläge sonst oft allzu leicht als würdiges Material der Forschung übernommen werden, taucht eine ganz grundlegende Fragen auf, die sich in Varianten immer wieder stellt: Welche Teile dieser Textmengen unterzieht man einer genaueren Analyse und welche lässt man beiseite?
Ganz unbekannt sind diese Problemstellung für die Literaturwissenschaft im Allgemeinen und die Gegenwartsliteraturforschung im Speziellen aber nicht. Zu denken ist etwa an die Frage, welche Texte in eine Werkausgabe aufgenommen werden oder wie man mit Texten umgeht, die zunächst in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen sind. Zudem ist im Bereich der Gegenwartsliteratur die Kanonisierung weniger ausgeprägt. Das Bewusstsein für die Möglichkeit, dass relevante Texte unbemerkt bleiben könnten, ist hingegen stärker vorhanden. Auf Twitter ist man doppelt mit dieser Frage konfrontiert: Als Frage nach der Literarizität und dann als Frage danach, welche der für literarisch befundenen Texte man nach welchen Kriterien auswählt (zu diesem Problem siehe auch diesen Text).
Eine andere Möglichkeit, auf die Textmengen zu reagieren, ist es, mit digitalen Verfahren eine größere Anzahl von Texten zu untersuchen, als man selbst lesen könnte. Twitter erlaubt über seine API aktuell den Download von ca. 3000 aktuellsten Tweets pro Account oder Hashtag. Das heißt aber, dass man genau in Bezug auf diese beiden Kategorien – Account und Hashtag – Vorentscheidungen treffen muss. Was könnte aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessant sein? Wo finden sich potentiell Texte, die repräsentativ sind? Es gibt hier keine allgemeine Lösung, dazu sind auch die Formen des Schreibens auf Twitter zu unterschiedlich. Vielmehr muss man sich über verschiedene Entscheidungen annähern, die von einer klar formulierten Fragestellung ausgehen. Im Projekt haben wir das einerseits über das Kriterium gelöst, ob sich ein Account zumindest teilweise im literarischen Diskurs betätigt und andererseits schon in der Formulierung unserer Fragestellung adressiert wird: Wir interessieren uns für Gegenwartskonzepte in zeitdiagnostischen und literarischen Texten, sodass wir zunächst keine Entscheidung über die Literarizität unseres Korpus treffen müssen. Mit den an diesem Korpus erarbeiteten Mustern können wir dann wieder in die Lektüre einzelner Texte auf und jenseits von Twitter gehen.
Es ist jedoch in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch, einfach von Texten zu sprechen. Zum einen gehört die Integration von Bildmedien selbstverständlich zum Schreiben auf Twitter. Zum anderen wird ein Tweet immer in mehreren Zusammenhängen von anderen Tweets publiziert. Erstens auf der Timeline des eigenen Accounts zwischen allen eigenen Tweets und zweitens auf einer unbestimmten Anzahl anderer Timelines als Teil eines Zusammenhangs mit den Tweets anderer Autor*innen. Zwar werden beim Download der Tweets einige Metadaten – etwa der Veröffentlichungszeitpunkt und das verwendete Gerät – mit übernommen, nicht jedoch der ursprüngliche Kontext eines Tweets jenseits des veröffentlichenden Accounts. Gerade wenn ein Tweet auf andere reagiert, etwa Teil eines Memes war, ist das bei dieser Datenlage retrospektiv oft schwer nachzuvollziehen.
Zudem sind wir als Literaturwissenschaftler*innen häufig auf ein Textideal fokussiert, das den Kontext zumindest in einem ersten Schritt beiseitelässt. Schon in einem Aufsatz lässt sich aber ein Tweet nicht mehr so zeigen, wie man ihn möglicherweise zuerst gesehen hat. Kein Wunder, dass sich Aufsätze zum Zusammenhang von Twitter und Literatur häufig auf in Buchform edierte Tweets beziehen, etwa auf Florian Meimbergs Tiny Tales (2010). Twitter erfordert jedoch zwingend, dass die Literaturwissenschaft ihren Blick über die Grenzen des Buchformats hinaus erweitert und die spezifische Textualität von Twitter-Texten reflektiert.
Der Abdruck von Tweets in Büchern hat aber auch eine positive Seite. Zu den Unwägbarkeiten der literaturwissenschaftlichen Twitter-Forschung gehört es nämlich, einen Tweet nicht mehr zu finden. Texte auf Twitter werden nicht systematisch archiviert. Wenn man nicht im richtigen Moment einen Screenshot gemacht hat, ist der Tweet erst einmal weg und bleibt selbst nach langem Suchen unauffindbar. Tweets in Büchern haben den unschätzbaren Vorteil, dass sie wiederauffindbar und damit auch zitierbar sind. Der Nachteil liegt dann jedoch darin, dass das demokratisierende Potential von Twitter als Veröffentlichungsplattform durch den Eingriff herkömmlicher Gatekepper-Instanzen wieder eingeschränkt wird. Immerhin gibt es neben Publikationen bei den großen Verlagshäusern – etwa von Meimberg im Fischer-Verlag – auch Indie-Verlage wie den Frohmann-Verlag, die Twitter-Bücher herausgeben. Dies sorgt dafür, dass die Vielfalt der Stimmen auf Twitter auch in den Literaturbetrieb hineingetragen wird.
Möglicherweise hilft der Medientransfer auch bei einem weiteren Problem der Twitterforschung: dem ihrer Legitimierung. Wer zu Twitter forscht, muss auch mit Ressentiments gegenüber der Plattform und ihrer Legitimität als Forschungsgegenstand umgehen. Etwa mit dem Vorwurf, dass es auf Twitter ohnehin nur um Selbstdarstellung gehe. Oder dass dort nur der Mob zuhause sei. Dass dort alles so schnell und flüchtig und deshalb irrelevant sei. Dass es „richtige“ Literatur dort sowieso nicht gäbe, nur ein paar misslungene Haikus. Jede Buchpublikation hilft in dieser Frage, Literatur auf Twitter für diejenigen zu nobilitieren, die sie nicht ohnehin schon spannend finden. Wichtiger wäre aber eigentlich ein anderes Argument: Wenn man mit Goldsmith die entscheidende Veränderung für das literarische Schreiben durch das Netz in den Textmengen sieht, die dort verfügbar sind und immer weiter anwachsen, ist es geradezu zwingend, sich mit der Plattform auseinanderzusetzen. Sie erscheint dann nämlich als ein Modell für die Transformationen des Schreibens durch digitale Medien und Plattformen, die das Schreiben im Allgemeinen erfassen könnten.
Elias Kreuzmair
Die hier angesprochenen Fragen werden im Rahmen des Projekts auch bei dem Workshop „Schreibweisen der Gegenwart: Digitale Lektüren, digitale Texte“ diskutiert. Mehr zum Workshop über den untenstehenden Link: