Wir sind always on

Schreibweisen-Blog

Die Beiträge zur Debatte um die Verschiebung der Zeitwahrnehmung durch die Digitalisierung wird zu einem großen Teil von älteren bis alten weißen Männern geführt. Die meisten und die am meisten beachteten Beiträge kommen aus dieser Gruppe. Zentrale Vertreter sind zum einen Hans Ulrich Gumbrecht mit Unsere breite Gegenwart (2010) und zum anderen Douglas Rushkoff mit Present Shock (2014). Im Rahmen eines Seminars zu Konzepten von Gegenwart in literarischen und essayistischen Texten von Dr. des. Elias Kreuzmair haben sich mehrere Gruppen mit Ausschnitten aus den oben genannten Texten befasst. Die folgenden Kommentare kommen von denen, die in diesen Texten meistens nur als zu Beschützende vorkommen, die vor den Folgen von vermeintlichen Fehlentwicklungen bewahrt werden müssen, selbst in der Debatte aber oft keine Stimme haben. „Nicht alle von ihnen kennen mehr als zwei (…) Jahrzehnte“, schreibt eine Gruppe. Die Texte zeigen sich wütend, aber auch differenzierend, nehmen Argumente von Gumbrecht und Rushkoff auf oder weisen sie zurück. In jedem Fall erweitern sie das Blickfeld – gerade auch vor dem Hintergrund der Rolle digitaler Medien in der Corona-Pandemie.

 

Zeitzeugen einer Zeitwahrnehmung

Das Handy leuchtet auf, Pushnachricht, Trump hat getweeted, Amerika sei sehr sehr toll, Corona sehr sehr schlecht, abends müde Tagesschaugesichter, morgens zehn neue Mails aus dem Moodle-Forum zur Zeitlichkeit, *augenroll* #annoying, sogar in die Uni verfolgt uns die Zeit und vor allem unser Jetzt. Nicht nur, dass alles jetzt passiert, jetzt passiert auf einmal überall. Wir – das sind erstmal nur vier westlich sozialisierte Studierende (wir kommen noch einmal drauf zurück) – haben eine Obsession mit der Gegenwart.

Auch die beiden – ja, was sind sie denn nun, Gegenwartsforscher, Wissenschaftler, alte wütende Männer? – stellen in ihren Überlegungen zur gegenwärtigen Zeitwahrnehmung fest: Unsere Gegenwart nimmt an Dominanz zu, bei Gumbrecht in lokalem Maße, bei Rushkoff in unserer kulturellen Wahrnehmung von uns selbst. Beide sind sich einig, die neuen Medien der Digitalisierung nehmen uns die menschliche Last der Erinnerung ab, die Vergangenheit wiederholt sich immer wieder selbst in unserer Gegenwart, ein Tsunami vergangener Jahrzehnte bei Gumbrecht, der verzweifelte Versuch unser Jetzt trotz all der Ablenkung zu fassen und erzählbar zu machen bei Rushkoff.

Rushkoffs Gegenwart wird dabei dort konturlos, wo wir zwischen all den simultanen Ablenkungen des ständigen Stroms von Jetzt keine Entscheidungen mehr treffen, kein Bewusstsein für Wichtiges mehr entwickeln und deswegen keine sichere Zukunft mehr entwerfen können. Unsere lineare Narration von sagen wir Nation oder Wirtschaft funktioniert seit Kurzem nicht mehr und sucht, in medialer Selbstreferenz, popkulturellen Zitaten und Ironie Auswege zu finden. Gumbrechts Gegenwart hingegen, verliert in ihrer Ausbreitung durch die sie überrollende Vergangenheit und die sich ihr verschließenden Zukunft ihre Konturen.

Das Konzept unserer konturlosen, schockierenden Gegenwart lässt Rushkoff mit der Etablierung digitaler Medien und dem uneingelösten Zukunftsversprechen um das Krisenjahr 2000, mit Börsencrash und 9/11, einsetzten. Gumbrecht seine breite Gegenwart in der Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Popularisierung ‚neuer‘, speichernder Medien, die uns nicht länger körperliche Präsenz zur Kommunikation abfordern. 

An diesem Punkt jedoch stellt sich bereits die erste Frage: Stößt das Bild der immer breiter werdenden Gegenwart dort an seine Grenze, wo auch die speicherbare Vergangenheit ihre Grenzen findet? Und wenn sich hinzukommend auch die Zukunft der Gegenwart in Drohgebärde verschließt, wie kann Gegenwart dann breiter werden? Leiht sie sich Platz, um in der räumlichen Perspektive zu bleiben, aus der Zukunft, um sich zu verbreitern, wenn das Maximum nach hinten, in Richtung eines früheren Zeitpunkt erreicht ist?

Oder wird sie nicht einfach, man denke an Rushkoffs narrativen Kollaps und die popkulturelle Methode des Zitats, immer gefüllter? Wir und mit uns Gumbrecht und Rushkoff leben im florierenden Kapitalismus: Wenn wir, wirtschaftlich gesprochen, also das Gefühl haben mehr Güter, mehr vergangene und gegenwärtige Elemente gleichzeitig zur Verfügung zu haben, ist es dann vielleicht nicht einfach das Tempo mit dem wir zwischen diesen zu konsumierenden Waren wechseln können, das sich erhöht hat und nicht der Raum (der Ort, die Gegenwart), der sich vergrößert, in dem wir dies tun? Eine Art veränderter Modus der Durchlässigkeit zwischen allen drei Zeitebenen, den kontextuellen Änderungen der letzten 30 Jahre angepasst? Verbindet man mit Rushkoff, hätte sich so nicht einfach (obwohl natürlich nie wirklich einfach) nur die Art der Narration verändert, mit der wir unsere Zeitwahrnehmung erzählen.

Wir wollen mit beiden in einigen Punkten mitgehen. Die letzten (nicht alle kennen viel mehr als zwei) Jahrzehnte sind ein bisschen rauschartig an uns vorbeigezogen. Wir sind immer verfügbar und deshalb zu jeder Zeit sei es körperlich oder in digitalen Räumen präsent, wir sind also tatsächlich gefühlt öfter Teil von Jetzt. Nur wollen wir den alarmierten Ton der beiden Herren nicht so recht teilen. Wenn Rushkoff um seine These zu unterstützen, ein ums nächste filmische Beispiel zitiert, dann generiert er nicht weniger einen Rausch von Wahrnehmung, als er ihn der digitalisierten Gegenwart attestiert und zum Vorwurf macht. Ohne eine Reflexion der Auswahl an Beispielen kultureller Güter, stellt sich die Frage, wo bleibt die Literatur und was ist mit den unzähligen, auch literarischen Beispielen, in denen nach wie vor erfolgreich linear erzählt wird? Ist Rushkoffs Diagnose vielleicht weniger eine Übertragung von Beobachtungen auf eine abstrahierte Form von Krankheitsbild, als ein dahingekrakeltes Attest nach einer gemurmelten Aufzählung von Symptomen?

Auch Gumbrecht möchte man die Grundlage persönlicher Erfahrungen, die er eher essayistisch als analytisch darstellt nicht übelnehmen, aber die Worte „alter, wütender Mann“ liegen einem ein bisschen auf der Zunge. In beiden Texten, bei Gumbrecht jedoch deutlich merklicher, fehlt die Reflexion über die Entstehung der eigenen Theorie in den Köpfen zweier westlich (kapitalistisch) sozialisierter, gebildeter, nach weltweiten Standards wohlhabender, alter, männlicher Autoren – was erstaunlich ist, nennt Gumbrecht zu Beginn seines Textes doch die Beobachtung zweiter Ordnung als den einen Teil des Denkrahmens für seine Diagnose von Gegenwart. So scheinen die Überlegungen Gumbrechts als auch Rushkoffs weniger eine Diagnostik von Gegenwart als viel eher (literarische?) Zeitzeugen einer gewissen westlichen Zeitwahrnehmung.

Gruppe A (Julius Giebel, Stefanie Ploch, Julian Unterieser, Hannah Willcox)

 

Simultanitäten

Das Wesen der Gegenwart ist schwer zu fassen. Und so vielfältig wie die individuelle Wahrnehmung der gegenwärtigen Zeit ist, so vielfältig sind die wissenschaftlichen Gegenwartsdiagnosen. Ihnen gemeinsam ist, um es in den Worten von Aleida Assmann (2013) zu beschreiben, die Kritik am „Auseinanderbrechen und neu Zusammensetzen des temporalen Zeitgefüges von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (7). Sowohl Rushkoff als auch Gumbrecht sprechen von einer Auflösung der bisherigen Zeitordnung, die sie jedoch an Zeitebenen festmachen. 

Rushkoff beobachtet einen „narrativen Kollaps“: Die Geschichten und Erzählungen, die zuvor unsere Wahrnehmung der Welt, unsere Wertvorstellungen und unsere rationalen Entscheidungen bedingt und geprägt haben, haben ihre Wirksamkeit verloren. Diesen Wandel führt er auf technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte zurück, denn sie “passten einfach nicht in die Geschichten [...]” (Rushkoff 2014, 25). Mit dem Platzen der Dotcom-Blase und dem Anschlag vom 11. September 2001 fielen die bis dahin vielversprechenden in die (bessere?) Zukunft weisenden Erzählungen - die “großen ‘Ismen’ des 20. Jahrhunderts” wie Rushkoff sie nennt - in sich zusammen. Hatten die neuen technischen Erfindungen in 1990ern noch den “Futurismus” beflügelt, bestärken sie nun den “Präsentismus”. Nicht nur scheinen die “großen ‘Ismen’ gescheitert zu sein, wir sind zudem mit einem Überangebot an Geschichten konfrontiert, das ein impulsives Zapp-Verhalten begünstigt und befördert. In der Folge verlieren Vergangenheit und Zukunft im Angesicht des gegenwärtigen Moments ihre Relevanz, nur was jetzt passiert, ist von Bedeutung. Vielleicht ist es das Wissen, dass es immer zahlreiche Alternativen zu den eigenen gegenwärtigen Erfahrungen und Erlebnissen des “Jetzt” gibt, das ein Gefühl der Beschleunigung erzeugt. 
Eher am Rande stellt Rushkoff (2014) fest, dass es der Technologie gelungen ist, “die Gegenwart von der Bürde der Erinnerung zu befreien, ohne diese zu verlieren” (14). Können wir uns also beruhigt auf die kurzweiligen Momente der Gegenwart konzentrieren, weil unser digitales Gedächtnis jederzeit über Smartphone, Tablet und Laptop abrufbar ist? Genau dieses Konzept beschäftigt Gumbrecht in seiner Theorie der “breiten Gegenwart”. Für ihn hat sich jedoch die Gegenwart nicht von der Vergangenheit losgelöst (oder vielleicht auch losgesagt?), sondern sie wird von der Vergangenheit “überschwemmt”. Wir können sie gar nicht vergessen, weil sie allezeit präsent ist. Man denke nur an die Radiosender, die sich mit dem Slogan “Alle aktuellen Hits und das Beste aus den 80ern, 90ern und 2000ern!” bewerben. Während bei Rushkoff der gegenwärtige Moment in den Vordergrund tritt und Vergangenheit und Zukunft im Hintergrund verblassen, lösen sich bei Gumbrecht die jüngeren Vergangenheiten in der Gegenwart auf. Gleichzeitig verschließt sich uns die Zukunft als Handlungsraum, weil wir die unterschiedlichen Erfahrungen, die sich den verschiedenen Vergangenheiten ergeben, nicht mehr adäquat einordnen und aus ihnen Konsequenzen für die Zukunft ziehen können.

Will man es prägnant formulieren, ist Gumbrechts Konzept der Gegenwart eines der Simultaneität der Vergangenheiten, bei Rushkoff eines der Simultaneität der Gegenwarten – hauptsächlich bedingt durch Digitalisierung, die in den 1990ern ihren Anfang genommen hat.

Die Gegenwärtigen (Caroline Albrecht, Patricia Becher, Sophie Lorenz, Inken Pacholke)

Technologie als Natur

In Present Shock (2013) definiert Douglas Rushkoff sein Konzept von Gegenwart, während Hans Ulrich Gumbrecht sein Konzept in Unsere breite Gegenwart (2010) darlegt. Beide verbinden die Gegenwart als Zeitepoche mit der fortschreitenden Digitalisierung. Als wichtigen Umbruchs- und Ausgangspunkt nennen beide die Jahrtausendwende und 9/11. Während vor der beginnenden Digitalisierung der Mensch ihrer Meinung nach so gelebt hat, dass er jeweils die Vergangenheit hinter sich ließ, Zeit sehr linear empfand und die Zukunft ein Hoffnungsträger war, änderte die Digitalisierung unser Konzept von Gegenwart. Technologische Innovationen beschleunigen das Leben. Die Vergangenheit ist durch moderne Speicher- und Informationstechniken unbegrenzt konserviert und kann nicht mehr vergessen werden. Die Digitalisierung hat uns nach und nach der Hyperkommunikation nähergebracht. Technologie ist also allgegenwärtig, jeder ist immer verfügbar und unbegrenzt erreichbar – räumliche Distanzen sind kaum noch relevant. Das sorgt jedoch für eine Überflutung von Reizen, Informationen und Nachrichten. Dabei vertreten beide in ihren Ausführungen die Meinung, dass die Allgegenwärtigkeit von Technologie uns die Fähigkeit nimmt, zwischen bedeutsamen und unbedeutsamen Dingen zu unterscheiden. Alles, was nicht unmittelbar gegenwärtig ist, verliert an Bedeutung, weil der Ansturm von allem, was simultan passiert, so gewaltig ist. 

Gumbrecht unterscheidet zwei Arten von Gegenwart: 

  1. Eine sehr breite Gegenwart, die konstant von Vergangenheiten überschwemmt wird, wodurch sie keine klaren Grenzen mehr hat. Die Gegenwart ist also nicht mehr genau auf einen einzelnen Moment abgrenzbar, da viele Vergangenheiten im Jetzt immer noch präsent sind. 
  2. Eine sehr räumliche, sinnliche, echte, analoge Gegenwart. 

Die Zukunft ist bei ihm hingegen nicht, wie in der Zeit des „Historischen Denkens“, ein Pool von Möglichkeiten, sondern mittlerweile eine immer näherkommende Bedrohung, die allerdings durch technische Innovationen simuliert und dadurch bereits verfügbar gemacht werden kann. 

Es besteht eine konstante Spannung zwischen Beschleunigung und Stillstand, zwischen allgegenwärtiger Hyperkommunikation und singulären Präsenzmomenten.

Der Autor gibt selbst zu, dass seine Kritik der Digitalisierung gegenüber in seinem Alter begründet ist. Obwohl er Kritik äußert, scheint er dem technischen Fortschritt nicht gänzlich abgeneigt zu sein, bittet aber um Toleranz und Vergebung dafür, dass er selbst sich in seinem fortgeschrittenen Alter nicht mehr zu einem technikaffinen Menschen entwickeln wird. 

Die positive Seite der Digitalisierung ist, dass Kommunikation nun unabhängig von Distanz möglich ist und dass den Momenten ihre Unwiederbringlichkeit genommen wird. Kritik äußert er besonders daran, dass technische Neuheuten häufig nicht erfunden werden, weil sie wirklich gebraucht werden, sondern aus ästhetischen und wirtschaftlichen Gründen. Außerdem bringt die Digitalisierung Menschen in eine Abhängigkeitssituation und sie beginnen, Leerstellen mit technischen Kommunikationsmöglichkeiten zu füllen. Damit nimmt Die Digitalisierung nicht nur den Raum für Gedanken und Träume, sondern auch Kreativität und Phantasie. 

Sein Fazit: Sinnliche, echte Wahrnehmung und Präsenz wird immer bedeutsamer bleiben als Technologie. 

Rushkoff bezeichnet den Wandel vom 20. Ins 21. Jahrhundert als eine Entwicklung vom Futurismus zum Präsentismus. In der Gegenwart fixiere man sich also immer auf den momentan gegenwärtigen Moment. Diese Permanente Fixierung auf das Jetzt in Kombination mit der Schnelllebigkeit der modernen Welt führt zu einem Zustand ständiger Ablenkung, wodurch man die Gegenwart gar nicht mehr bewusst wahrnehmen kann. Die Digitalisierung führt dazu, dass uns konstant eine unglaubliche Menge an Informationen verfügbar ist, deren Masse uns erdrückt und zum Gegenwartsschock (Present Shock) führt. 

Weiterhin kritisiert Rushkoff sehr harsch, bisweilen sogar polemisch, die Auflösung kohärenter, linearer Erzählstrukturen, die er sich scheinbar zurückwünscht. Ebenso kritisch betrachtet er die Entwicklung der Filmindustrie, die von gradlinigen Plots hin zu momentbasierten, nicht mehr linear strukturierten Geschichten verläuft. Es folgen eindrucksvoll lange Beispielketten, denen allerdings eine ähnlich eindrucksvolle Erklärung und Argumentation fehlt, wodurch der Text auf den letzten Seiten seinen roten Faden und seine Bedeutung verliert. 

Er nennt zwar zu Beginn einige wenige Vorteile, die durch die Digitalisierung entstehen, danach folgt allerdings nur noch Kritik. Seine Lösung: „Auf Pause drücken“ und bewusst Entschleunigen, um der allgegenwärtigen Hektik und Beschleunigung entgegen zu wirken. 

Bei Rushkoff finden wir also sogar drei verschiedene Interpretationen des Begriffs „Gegenwart“: 

  1. Die Gegenwart als längere Zeitepoche. (Seit Beginn der Digitalisierung) 
  2. Der Moment, der unmittelbar jetzt stattfindet. (Verfliegt schnell) 
  3. Die Gegenwart als Ruhephase zur Entschleunigung. 

Unsere Gruppe ist in der Diskussion zu beiden Werken zu dem Fazit gekommen, dass uns einige Darstellungen zu überdramatisiert und überspitzt waren.  

In Rushkoffs Ausführungen fehlen uns teilweise Begründungen und seine Krisenrhetorik ist ohne entsprechende Argumentation unangebracht. Außerdem ignoriert er positive Aspekte der Digitalisierung komplett. 

Beide Ausführungen sind oft sehr verallgemeinernd. Sicher hat nicht jeder in der Gegenwart lebende Mensch Angst vor der Zukunft und empfindet sie als immanente Bedrohung. Es wäre auch eine Überlegung wert, zu untersuchen, inwiefern der Gegenwartsschock als Phänomen einer jüngeren Generation gewertet werden kann? 

Generell sind einige Darstellungen überspitzt: Auch wenn noch vor wenigen Jahren die Vergangenheit endgültiger und klarer von der Gegenwart abgrenzbar war, war sie doch schon immer ein Teil der Gegenwart, da jeder Mensch immer seine eigene Geschichte mit in sich trägt und seine Erfahrungen die Grundlage all seines Handelns sind. Die Flut an Informationen muss heutzutage nicht überfordernd wirken. Jeder kann seine technischen Geräte und Medien nach eigenem Belieben benutzen und Informationen filtern und selektieren. 

Außerdem empfindet besonders die jüngere Generation, die die Welt erst nach der einsetzenden Digitalisierung kennenlernen konnte, digitale Neuerungen und die Allgegenwärtigkeit von Technologie als natürlich. 

Auch wenn wir mit keinem der beiden Konzepte komplett konform gehen, so ist das von Gumbrecht definitiv kohärenter und sinnvoller dargestellt. Besonders überzeugt hat uns, dass er, im Gegensatz zu Rushkoff, seine eigene Meinung zur Digitalisierung sehr reflektiert darstellt und weitere Perspektiven einbindet. 

Besonders aktuell ist sein Argument, dass Technologie und Digitalisierung niemals analoge, echte, emotionale Momente und Kommunikation ersetzen werden können. Das erleben wir alle an der Corona-Krise derzeit hautnah. Auch wenn die Technik es uns möglich macht, rund um die Uhr unendlich viele soziale Kontakte zu pflegen und Konversationen digital zu führen, so leiden doch viele daran, sich nicht im echten Leben mit Freunden und Familie treffen zu können. Das zeigt noch einmal mehr, dass Gumbrecht recht behält, wenn er sagt, dass analoge Gegenwart essentiell ist und das Präsenz-Bedürfnis bestehen bleibt. 

Gruppe F (Lydia Bandow, Karina Bartelt, Andy Brokopf, Hanna Roick)

 

Wir sind always on

Obschon wir Gumbrechts Einwurf teilen, die moderne Kommunikations- und Unterhaltungstechnik zerstückele unser Zeitempfinden in nicht-lineare, niemals gänzlich vergehende Gegenwarten, die einer bedrohlichen und endlichen Zukunft entgegen rasen, so widersprechen wir doch seiner Einschätzung einer schwindenden Materialität und Körperlichkeit. Der Mensch verliert sich nicht zwangsläufig in den Informationsmedien und virtuellen Welten, sondern erhält eine Art körperlicher Simultanität. Die Möglichkeit, an mehreren Orten gleichzeitig präsent zu sein und gehört zu werden, stellt für uns das genaue Gegenteil zu einer verlorenen Materialität dar. Natürlich sind Verbindungen und Informationen zentrale Faktoren in unserer vernetzten, globalisierten Welt. Wenn, wie Gumbrecht argumentiert, zahllose Vergangenheiten in die Gegenwart fluten und damit niemals tatsächlich vergangen sind, muss dies allerdings nicht als Verlust oder negativ gewertet werden — es handelt sich lediglich um eine Veränderung unseres Zeitempfindens sowie der Art und Weise, wie wir unsere Rolle in diesem Gefüge wahrnehmen. Gefahren wie Kontrollverlust und Apathie im Angesicht einer immer lauten, immer rasanten Welt müssen beachtet und angegangen werden; jedoch lassen sich diese modernen Probleme längst nicht mehr gegen jene Technik debattieren, deren Nebenwirkungen sie zweifellos sind. Gumbrechts langjährige Verweigerung vor dem Fortschritt hält diesen daher freilich nicht auf, sondern fördert nur den Stress, den er ihm verursacht.

Rushkoff porträtiert uns als Generation, die in einem Zustand ständiger Ablenkung, hervorgerufen durch permanentes Multitasking, lebt. Wir sind always on. Immer interessiert an "echten" Erfahrungen, die dann aufgrund der Fülle an Informationen und Reaktionen nicht bewältigt werden können und somit keine tiefere Bedeutung erfahren. Das Bewusstsein für vergangene Geschichten und lineare Narrationen ist uns abhandengekommen. 

Es ist tatsächlich so, dass wir ab und an die Orientierung verlieren. Dem Puls der gegenwärtigen Zeit folgen und dabei den Blick auf Wesentliches verlieren. Jedoch erfahren wir dabei keine zeit- und ziellose immerwährende Gegenwart.  

 Neil Postman behauptet, Nachrichten und Informationen, welche über die Neuen Medien verbreitet werden, wären bedeutungslos und hätten keine Relevanz für die nachfolgende oder vorherige Zeit. Er nennt unsere Zeit die „Zeit der Bruchstücke, in der jedes Ereignis [...] für sich steht.“ Wir stimmen ihm insofern zu, dass Nachrichten häufig wenig Bedeutung für das eigene Leben haben, und eher nur der Unterhaltung dienen. Geht es nun aber zum Beispiel wie in unserer Situation um Regeln zum Verhalten bezüglich des Coronavirus’, so haben diese Informationen für uns durchaus eine Bedeutung. Doch auch hier lässt sich gut zeigen, dass diese „Bedeutung“ schnell verloren geht, weil innerhalb einer Woche neue Regeln aufgestellt werden, welche die anderen ablösen. Zusätzlich glauben wir, dass jeder Mensch den Informationen, die er über die Medien erhält, selbst eine Bedeutung, einen Wert geben kann. Durch die Medien wird Interesse für neue Gebiete erweckt, welches speziellen Informationen und Nachrichten somit eine Bedeutung geben kann. Diese ist dann jedoch individuell für jede Person.

Nach unserer Auffassung ist die strikte Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl schwierig als auch unnötig. Durch den Einfluss der modernen Technik wurde die ganze Welt kleiner und „präsenter“, Ereignisse überschlagen sich und bleiben „gleichzeitig“, ohne jemals gänzlich zu verschwinden. Dafür sorgen die modernen Speichermedien. Daraus resultiert eine zersplitterte Gegenwart, die sich scheinbar in beide Richtungen ausbreitet und die Vergangenheit weniger vergangen erscheinen lässt, während die Zukunft nicht mehr so unmittelbar wirkt wie zuvor, sondern vielmehr als drohendes Unheil noch „hinter“ der vorweggreifenden Gegenwart lauert.

Die Coronauten (Sarah Bender, Laura Fuchs, Sepanta Saghafi, Erik Weber)

 

 

Literaturverzeichnis

Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013.

Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Übers. v. Frank Born. Berlin 2010.

Rushkoff, Douglas: Present Shock. Wenn alles jetzt passiert. Übers. v. Gesine Schröder/Andy Hahnemann. Freiburg 2014.

Eckhard Schumacher: Present Shock. Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung. In: Merkur 72 (2018), S. 67-77.


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Fotos in Slideshow: Magdalena Pflock

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