Am 20./21. August fand im Rahmen des Forschungsprojekts ein Workshop an der Universität Greifswald statt. Es ging um den sogenannten Miami-Komplex in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Im Vordergrund stand der Versuch, einen Zusammenhang zwischen Romanen wie Miami Punk (2019) von Juan S. Guse und Flexen in Miami (2020) von Joshua Groß und eher theoretisch angelegten Projekten wie Armen Avanessians Miamification (2017), auf das sich beide Romane beziehen, oder Mindstate Malibu (2018) herzustellen. Mit auswärtigen Gästen um Prof. Dr. Moritz Baßler (Münster) und Prof. Dr. Heinz Drügh (Frankfurt/Main) wurden verschiedene Fährten diskutiert, die zu einer Antwort auf die Frage „Warum gerade Miami?“ führen sollten. Der folgende Text von Annica Brommann ist weniger ein protokollarischer Bericht über den Workshop im engeren Sinn als eine eigene Positionierung zu den aufgeworfenen Diskussionspunkten.
„Es gibt Begriffe und Dinge, die sind irgendwie klar – Dosenravioli, Krokodile oder Bauhaus. Und dann gibt es den Grind: Mit dem Grind ist es ein bisschen wie mit Helge Schneider oder Diskurspop. Die einen kriegt es sofort, die anderen können damit nichts anfangen. Doch im Unterschied zum eben genannten geht der Grind uns alle an. Denn er ist mehr als nur ein viel verwendetes Wort auf Twitter oder im Rap-Game. Der Grind ist die Gegenwart in einem Wort.“1
Der Grind, sonst aus dem Bereich des Gamings und der sozialen Medien bekannt, ist nicht die einzige Verbindung zwischen den Romanen Flexen in Miami, Miami Punk und der Anthologie Mindstate Malibu. Miami erscheint (irritierendeweise in einem Zuge mit Malibu) als Schauplatz verschiedener Zukunftsszenarien und Gegenwartsbeschreibungen, für die wiederum Avanessians Miamification eine zentrale Referenz ist: „Hier grindet eine neue Avantgarde, die den angesammelten Datenhaufen als Ausgangsbasis nutzt und darüber hinaus ein Gegengewicht zur nicht-digitalen Wirklichkeit schafft. Mit einer Agenda und einer eigenen Poetik.“2 Eingehüllt in Lila-, Blau- und Pinktöne ist ihnen eine postdigitale Ästhetik gemeinsam: Mit Pastell- bis Grellabstufungen und Neonlichtern ist in Miami irgendwie alles künstlich schimmernd und (vapor)wavy3. So jedenfalls aus Sicht einiger deutschsprachiger Schriftsteller, die teilweise wiederum betonen, selbst noch gar nicht dort gewesen zu sein. Obwohl oder vielleicht gerade, weil das authentische Miami kaum eine Rolle spielt, scheint sich die Stadt geradezu aufzudrängen als Kulisse verschiedener Gegenwartserfahrungen im Spätkapitalismus. Werden diese kritisiert oder affirmiert? Nun ja, erst einmal geht es um die Reibung, den Grind, der dabei entsteht.
In einem durchaus vergleichbaren Sinn der von Avanessian in Miamification geforderten Zukunftsgenossenschaft formulieren die Texte zeitdiagnostische Thesen und zeigen vom abgeklärten Namedropping in Flexen in Miami bis hin zu einer hermeneutischen Schnitzeljagd der Verweise und Zitate in Miami Punk, wie eine Verschränkung von Theorie und Literatur funktionieren kann. Gleichzeitig verkomplizieren sie die Gemengelage, entwerfen aberwitzige Diegesen und unterscheiden sich in der Deutlichkeit ihrer Gegenwartsbeschreibung. Während Miami Punk offensichtlich recherchebasierte und detailliert differenzierte Beschreibungen liefert, scheint sich das Verhältnis des gegenwärtigen und fiktiven Miamis bei Flexen in Miami ambivalenter zu gestalten. In der Flucht nach vorne wird im Artifiziellen das Eigentliche, das Echte gesucht. Anschließend an Diskurse der New Sincerity scheint Authentizität zunächst über eine Hinwendung zur Innerlichkeit gesucht zu werden, wobei eine parallele Entfremdung mehr darauf hindeutet, dass die Darstellung authentischer Gegenwartserfahrung nur als Aushalten übereinander geschichteter Gleichzeitigkeiten funktionieren kann.
Groß‘ Protagonist Joshua weiß nicht so wirklich, wohin mit sich und tut sich schwer damit, seinen Tag überhaupt zu akzeptieren. Stattdessen zerstreut er sich, high oder nüchtern, mit einer Überlagerung verschiedenster, vor allem digitaler Tätigkeiten oder vertreibt sich stundenweise die Zeit mit einer einzelnen Plattform wie Twitter oder YouTube, wobei er vor lauter Hilflosigkeit schließlich zu weinen anfängt. Er beschreibt orange umleuchtete Dissonanzen des Selbst4, konstatiert „Unwohlsein [als] das grundlegende Gefühl unserer Existenz“5 und sucht einen Weg, um den „ausartenden Stillstand“6 auszuhalten. Tiefergehende emotionale Kommunikation scheint nicht mehr möglich zu sein, stattdessen erfolgen Äußerungen wie: „Er ist einfach so klein und cute und ich will alles über ihn wissen“7 in Bezug auf Joshuas potenziellen Sohn – nicht von seinen Freunden, sondern von seinem Kühlschrank. Ganz schön weird könnte man sich denken, aber innerhalb des Romans ist der Kühlschrank, solange er nicht auch high (von Elektrosmog) ist, tatsächlich eine emotionale Stütze des Protagonisten, die im Todesfall sogar benachrichtigt werden soll. Der Kühlschrank wird als selbstverständlich angenommener backup präsentiert und erlebt seine eigene Identitätskrise, wenn er sich fragt, ob er nach einem Umzug und Stromwechsel noch derselbe sein wird. Mit dieser Verschränkung von Mensch und Technik ließe sich Flexen in Miami als eine postdigitale Realität beschreiben, in der sich digitale und analoge Welt gegenseitig bedingen. Die digitale Technologie bietet neben emotionaler auch materielle Unterstützung, wobei die vor den Balkonfenstern lauernden Drohnen, die Geld und Lebensmittel (in Form von Astronautennahrung) bringen, im Gegensatz zu den happy fridge-Konversationen eine postapokalyptische Stimmung erzeugen. In dieser Variante der Near Future evoziert das allgegenwärtige Internet der Dinge demnach eine harmonische Koexistenz von Mensch und Technik auf der einen und überwachende Blicke des Post-Humanen auf der anderen Seite, wodurch sich utopische und dystopische Elemente überlagern.
Eine deutlich präsentere Bedrohung erzeugt die Wüstenlandschaft aus Miami Punk, wo sich das Meer auf ungeklärte Weise zurückgezogen hat und die Bewohner*innen der Stadt ohne ihren gewohnten Horizont zurücklässt. Das verschiebt und hinterfragt Dichotomien wie Oberfläche-Tiefe oder Virtualität-Realität und konfrontiert die Menschen mit einer neuen Wirklichkeit, in der sie alles neu aushandeln müssen: Materielle Lebensgrundlagen, soziale Zusammenhänge und sinn- beziehungsweise haltstiftende Welterklärungsmodelle. So bietet der Rowdy-Yates-Komplex als Schauplatz dieser DIY-Aushandlungsprozesse, der auch der titelgebenden Underground-Gruppe Unterschlupf gewährt, allen möglichen zwielichtigen ‚Schicksalsgemeinschaften‘ Raum: Es sammeln sich „[g]ewaltbereite Mikrobiologen, radikale Esoterikerinnen, autonome Ästhetiker [und] rechte Spirituelle“8. Was ist das für eine Gemeinschaft, die hier, in diesem sich ganz anders darbietenden Miami, miteinander diskutiert? „Gemein war all diesen Personen […] ein etwas fragwürdiger Geist des Widerstandes gegen den Zustand der Realität.“9
Mit solch einer Community, die Guse in sein Miami integriert, wird bereits der Bezug zur Gaming-Welt deutlich. Diese Überlagerungen mit, Anleihen beim und Bezüge zum Gaming sind in der Miami-Literatur mehr als bloße Spielereien: Grind, Spam und Glitch lassen sich nicht nur als Begriffsentlehnungen aus dem Bereich der Computerspiele und der sozialen Medien, sondern auch als literarische Verfahren und ästhetische Kategorien begreifen. Die Glitches verweisen auf eine Materialität des Digitalen und normalisieren zugleich die Virtualität. Es bilden sich weitere Steigerungen des Hyperrealismus, indem beispielsweise bei Cloud Control, dem Computerspiel aus Flexen in Miami, die Spielfiguren nicht nur den Namen des*r Spieler*in tragen müssen, sondern auch Spams als armeehafte Klone der originalen Avatare auftreten und von ihren Ebenbildern getötet werden. Authentizität wird damit unerreichbar und verliert an Bedeutsamkeit. Cloud Control wird von Joshua schon fast als psychische Belastung empfunden, scheint aber als potenzielles Paralleluniversum eine gewisse Sogkraft auszuüben und wird von den Spielenden als Medium einer Sinnsuche10 inszeniert. Im Sinne einer verdoppelnden Künstlichkeit werden die Daten der Außenwelt und der sozialen Medien eingespeist in die Welt der Games, ähnlich wie im Fall des in Miami Punk entwickelten Spiels Das Elend der Welt, bei dem sich die Nutzer*innen selbst spielen müssen. Dadurch vermischen sich in den Spielen reale Umstände mit den digitalen, teils künstlichen Angaben der sozialen Medien und erzeugen somit eine Art dritte Ebene von nicht mehr abgrenzbarer Realität und Fiktion innerhalb der Spielwelten. Mit diesen Praktiken schließen sich die Romane an Pop-Diskurse an, so zum Beispiel indem das Potential ergründet wird, nicht mehr authentisch ,man selbst sein’ zu müssen. Eine Flucht vor der eigenen Identität ist durch die fehlende Unterscheidung zwischen Selbst und Spielcharakter allerdings nicht mehr möglich. Was bleibt, sind nur Imaginationen des Selbst, die im digitalen Raum auf den bereits eingebundenen Daten des realen Lebens aufbauen.
Doch nicht nur der Begriff der Authentizität wird in den Romanen wieder aufgerollt und verschoben. Als mögliche postdigitale Weiterentwicklung von Hustlen ist im „Grind-Modus“ „alles überreal, affirmativ, surreal“11, Grind ist in Mindstate Malibu die „Gegenwart in einem Wort“12, beschreibt nicht mehr als eine „smarte Performance“13 und blendet den diagnostizierten Untergang bewusst aus. Affirmationen werden als poetische Strategie genutzt, um die „Schichtungsverhältnisse der Gegenwart“14 auszuhalten oder direkt in sie hineinzugehen. Überaffirmativ gelebt ist das Leben plötzlich „edgy, verstiegen, verkeilt, anstrengend und geil“15. Ist das nun subversiv? Liegt darin eine implizite Systemkritik, bei der die Kritik bewusst umgangen und dadurch gespiegelt wird? Vielleicht geht es zunächst darum, diese Ambivalenzen auszuhalten, auf der „Suche nach Erkenntnis […] neue Wahrnehmungsweisen und ästhetische Dimensionen zu erreichen […] und die Illusion [zu] feiern“16.
Bildet Miami also ein neues, wenn auch kleines, Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und wenn ja, was für eins? Klar wird zumindest, dass Miami einen Raum für Anknüpfungsmöglichkeiten und Vermischungen bietet, in dem sich Retro-Images und Künstlichkeit auf der einen und Zukunfts- wie Klimakatastrophendiskurse auf der anderen Seite gegenseitig verdichten und ästhetisch rückkoppeln. Genau so, wie sich in Joshuas Kopf durch Miamis Hitze „elektromagnetische Feedbackschleifen und Thermomixsynapsensmoothies“17 bilden, könnte ganz im Sinne Avanessians die „gegenwärtig gewusste Zukunft als ein Teil in das Ganze der zukünftigen Gegenwart“18 eingeschrieben worden sein. Miami wird zur Projektionsfläche für eine poetische Strategie, eine Stadt zwischen Vergangenheit (man denke an die Pastellästhetik von Miami Vice), Gegenwart und Zukunft. Mitzudenken ist, dass Avanessian mit seiner „Miamifizierung“ von den Autoren rezipiert wurde und zu einem gewissen Teil Ideenspender für diesen Komplex ist. Inwiefern dies über die von 2017 bis 2020 entstandenen Romane hinausgeht, mag bezweifelt werden. Texte wie etwa Lisa Krusches Erzählung Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere (2020), Leif Randts Roman Allegro Pastell (2020) oder aber Marius Goldhorns jüngst erschienenes Debüt Park (2020) deuten allerdings an, dass zumindest die hier angesprochenen Assoziationen und Themenkomplexe des Imaginationsraums Miami die deutschsprachige Gegenwartsliteratur über die Stadt hinaus beschäftigen und auch noch weiterhin beschäftigen werden.
Annica Brommann
1 Johannes Hertwig: Grinden wie Delphine im Interwebs. In: Joshua Groß u.a. (Hg.): Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus. Fürth 2018, S. 16-39, hier S. 21.
2 Ebd., S. 18.
3 Mit Vaporwave wird ein Musikstil bezeichnet, der sich Soundschnipsel anderer Richtungen wie der Gaming- oder Werbemusik bedient. Vor allem die damit in Verbindung stehende Retrokultur, insbesondere der 1980er Jahre, ist für den vorliegenden Zusammenhang von Relevanz.
4 Vgl. Joshua Groß: Flexen in Miami. Berlin 2020, S. 35.
5 Vgl. ebd., S. 168.
6 Vgl. ebd., S. 155.
7 Vgl. ebd., S. 196.
8 Juan S. Guse: Miami Punk. Frankfurt/Main 2019, S. 280.
9 Ebd.
10 Vgl. Groß: Flexen, S. 42
11 Hertwig: Grinden, S. 19.
12 Ebd., S. 21.
13 Ebd., S. 22.
14 Joshua Groß: Zauberberg-Bubble. In: , S. 307.
15 Ebd., S. 306.
16 Hertwig: Grinden, S. 25.
17 Vgl. Groß: Flexen, S. 24.
18 Armen Avanessian: Miamification. Berlin 2017, S. 24.
Bilder: Annica Brommann (1), Eckhard Schumacher (3)