Über Gegenwart sprechen (I)

Schreibweisen-Blog

Von Hannah Willcox (Text und Foto)

Die Rede von der Gegenwart ist prekär geworden. Schenkt man dem Boom von zeitdiagnostischen Studien, die Gegenwart als dominante Zeitform und bestimmendes Thema isolieren, Glauben, ist unsere Gegenwart in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur breiter,[1] permanenter,[2] absoluter,[3] gar endlos[4] geworden, sie scheint unter den Bedingungen der Digitalisierung auch zu einem umfangreichen Schlagwort in literarischen, wissenschaftlichen und essayistischen Beschreibungen des aktuellen Zeitverständnisses geworden zu sein. Ob „eine Ergebenheit an die Gegenwart“[5] in der Luft liegt oder sie im „Regime des Präsentismus“ dazu tendiert, „sich selbst ihr eigener oder einziger Horizont zu werden“,[6] wer sich dem Begriff der Gegenwart nähern möchte, wird kaum um die veränderte Zeitwahrnehmung herumkommen, die dem Konzept von Gegenwart im Zeitalter globaler Vernetzungen und digitaler Medien zu ominöser Prominenz verholfen hat. So wurde während des Workshops „Schreibweisen der Gegenwart: Zeitwahrnehmung und Zeitreflexion nach der Digitalisierung“ am 11.11.22 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald der Versuch unternommen literaturwissenschaftliche, historische, musikwissenschaftliche und soziologische Disziplinen sowie künstlerische Positionen in den direkten Austausch miteinander zu bringen. Im Fokus der Diskussion stand die Frage, wie postdigitale Gegenwartskonzepte neu konturiert werden und inwiefern sich unsere Zeitwahrnehmung in welchen Schreibweisen der Gegenwart ausdrückt.

Eckhard Schumacher eröffnete den Workshop mit einem Blick in die Vergangenheit des DFG-Projekts „Schreibweisen der Gegenwart“. In einer ersten Beobachtung hielt er fest, dass literarische Konstellationen, in denen Gegenwartsfixierungen ein performatives Potential entfalten, die Aktualität des Geschriebenen im Akt des Schreibens konstruiert wird, wie schon in der Pop-Literatur der 1990er Jahre auch nach der Etablierung des Web 2.0 auftauchen. Schumacher fragte: Was heißt diese Dominanz des Gegenwartsbegriff für das literarische Schreiben? Ausgangpunkte des Projekts, das sich mit genau dieser Frage beschäftigt, seien drei Stränge der veränderten Zeitreflexion und -wahrnehmung: 1. Gegenwart als prominentes Thema, Strukturelement und Buzzword von Gegenwartsliteratur, 2. eine Zunahme zeitdiagnostischer Studien zur Gegenwart, die kausal an Digitalisierungseffekte gebunden sind und 3. die interdisziplinäre Arbeit am Konzept der Gegenwart. Am Beispiel der mehrdimensionalen Auseinandersetzung mit Gegenwart in aktuellen Verlagsparatexten, die unterschiedliche Arten über Gegenwart zu sprechen produzierten, sie als lustvoll, unbequem oder als flüchtig in den Vordergrund der Textbesprechung stellten, erklärte er, wie das Projekt versuche, die drei Stränge aufeinander zu beziehen. Er schloss mit Juan S. Guses Roman Miami Punk (2019) als „Zustandsbeschreibung unserer Gegenwart“[7] und dem, was unter Gegenwartsvergegenwärtigung verstanden werden könne: Eine affirmative Verstärkung des Begriffs, ein erneutes Hervorheben, aber auch eine distanzierende Reflexion von Zeitlichkeit und Gegenwartsbegriff in literarischen Texten im Sinne Charles Baudelaires: représentation du présent[8] – Gegenwartsvergegenwärtigung.

An Schumacher schloss Achim Landwehr an, der mit seinem Vortrag seine These vom „Schreiben nach der Gegenwart“ performativ darlegte. Landwehr umriss die Problematik der Gegenwart im Digitalen anhand der vermeintlichen Dissonanz zwischen dem Schreiben des eigenen Hier & Jetzt als Behauptung der Instantanität und eines ganzheitlichen Jetztseins und der beständigen Konjunktivierung des eigenen Selbst. Dieses Selbst reiche in der Übertragung des gegenwärtigen Moments in ein digitales Medium zumindest gedanklich immer schon in andere Orte und Zeiten hinein. Den Konjunktiv als Modus einer Gegenwart, über die niemals ganz zu verfügen wäre, in einen Indikativ zu überführen, erzeuge, so Landwehrs Vermutung, einen „permanenten Konjunktiv“, der nicht Problem, sondern Antwort auf die vermeintliche Divergenz in der Zeitenwahrnehmung sein könne. So kam er mit Niklas Luhmann[9] zu seiner Arbeitsdefinition von Gegenwart: losgelöst von der Vorstellung eines bestimmten Ausschnitts auf dem Zeitpfeil, sei sie ein „waberndes, wolkenhaftes, eher molluskenartiges Gebilde mit vielfacher Dynamik“. Als eine sinnvolle, gar notwendige Ergänzung, um diesen Zeitraum zu beschreiben, erweise sich der Konjunktiv, mit dem sich andere Zeiten im Irrealis in der Gegenwart präsent halten ließen. Landwehr kam noch einmal auf die Zeitwahrnehmung im digitalen Raum zu sprechen, in dem die Differenz von messbarer und erlebter Gegenwart ausgelotet werde – einem Wechselspiel von Konjunktiven und Indikativen, aus dem ein Performativ hervorginge, „eine Aufmerksamkeit für die aufführende, vor- und zusammenführende Erzeugung von Gegenwarten“. Hier setzte er mit seinem Konzept des Schreibens nach der Gegenwart an. Der Vorgang des Schreibens und Beschreibens hinke der Gegenwart immer schon hinterher. Sie sei dabei kein Zeitraum, der auf einem unilinearen Zeitpfeil fixiert werden könne, sondern ein Gebilde, das schreibend und beschreibend verfügbar gehalten werden müsse, um sie als Handlungszeitraum überhaupt zu erhalten: „ein immer offenes und gegenwärtiges Verhandeln des Ungegenwärtigen“. Besonders angeregt nahm die Diskussion noch einmal das Verhältnis von ,über Gegenwart schreiben‘ als retroaktive Konstruktion einer Zeitspanne und ,Gegenwart erschreiben‘ als proaktives Vervielfältigen von linearen Zeitpfeilen in den Blick und verhandelte frei nach Derrida die Unmöglichkeit von der Gegenwart zu sprechen.  

Mit Grenzen des Begriffs und produktiver Überforderung durch das Konzept Gegenwart beschäftigte sich auch Nina Noeske in ihrem Beitrag „Anachronismen musikalischer Gegenwart, oder: Musikhistoriographische Zeithorizonte“, mit dem sie der Frage nachging, wie sich eine Musikgeschichte der Gegenwart schreiben lässt, wenn zeitgenössische Musik stets eine reflexive Position zur eigenen Gegenwärtigkeit einzunehmen scheint. Sie stellte verschiedene Zugänge der Musikwissenschaft und des Musikbetriebs vor, Gegenwart als Zeitraum zu datieren. Mitunter beginnt diese Gegenwart bei Komponist*innen wie Arnold Schönberg (geb. 1874) . Interessanterweise bedienten sich auch die Zeitdiagnosen der letzten Jahre wie Hans Ulrich Gumbrechts Unsere breite Gegenwart (2016) immer wieder der Gegenwartsmusik, um den Befund einer Gegenwart zu stützen. Diese werde von Vergangenem aus dem digitalen Archiv überschwemmt, finde keinen Abstand mehr zu ihm und blicke gleichzeitig einer bedrohlichen, unzugänglichen Zukunft entgegen. Teil dieser breiten Gegenwart sei bei Gumbrecht auch, dass es zunehmend schwerfalle, „irgendeine Musik der vergangenen Jahrzehnte aus der Gegenwart auszuschließen“.[10] An Nietzsches „Unzeitgemäße Betrachtungen“ anschließend stellte sie den kulturkritischen Gegenwartsdiagnostiker*innen um Gumbrecht Giorgio Agambens Konzept der ,Zeitgenossenschaft‘ entgegen. Denn signifikant sei vielmehr, dass Gegenwartsmusik die Kunst sei, die die breite, durchlöcherte Gegenwart als solche erkenne und im Abstand zu sich selbst einen Anachronismus der Zeitgenossenschaft erzeuge: ihr angehöre, ihr gleichzeitig entzogen sei und sie beobachten könne, in der Reflexion erst fassbar mache. Noeske gab hierfür verschiedene Beispiele zeitgenössischer Musikstücke, darunter Alexander Schuberts Codec Error(2017), Johannes Kreidlers 20:21 Rythms of History (2021) und Jennifer Walshes The Total Mountain (2014), die sich alle auf unterschiedliche Weise an der Gegenwart als abarbeiteten und damit einen Beobachter*innenstandpunkt zu unserer „grell-leuchtenden breiten Gegenwart“ einnähmen und ihre Dunkelheit, das Paradoxe, Fragile und Übersehene ausleuchteten.


Der zweite Teil des Berichts zu den Vorträge von Urs Stäheli und Elias Kreuzmair sowie der Lesung mit Elisa Aseva folgt in Kürze!


[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart. Übers. v. Frank Born. Berlin 2010.

[2] Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin 2016, S. 149.

[3] Marcus Quent (Hg.): Absolute Gegenwart. Berlin 2016.

[4]Springerin 3/2016 (Schwerpunkt: „Endlose Gegenwart?“) sowie NÖ Festival und Kino GmbH (Hg.): Endlose Gegenwart. Krems 2018.

[5] Julia Zange: Realitätsgewitter. Berlin 2016, S. 33.

[6] François Hartog: „Geschichtlichkeitsregime“. In: Anne Kwaschik/Mario Wimmer (Hg.): Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis. Bielefeld 2010, S. 85-90, hier S. 86.

[7] Felix Stephan: „,Miami Punk‘ von Juan S. Guse: Zerstören und verwalten, zerstören und verwalten“. In: SZ.de. www.sueddeutsche.de/kultur/joan-s-guse-miami-punk-rezension-1.4367572, 2019 [zuletzt eingesehen am 21.11.22].

[8] Vgl. Charles Baudelaire: „Le Peintre de la Vie moderne“ [1863]. In: Ders.: Oeuvres complètes. Hg. v. Marcel A. Ruff. Paris 1968, S. 547.

[9] Vgl. Niklas Luhmann: „Temporalstrukturen des Handlungssystems. Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie“. In: Soziologische Aufklärung 3 (1981), S. 126-150.

[10] Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, S. 16f.

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