SCHREIBWEISEN-BLOG

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(Schreck-)Gespenster in den Sozialen Medien

Schreibweisen-Blog

Vor Kurzem hielt ich auf der interdisziplinären Fachtagung „Soziale Medien. Schreibweisen der Gegenwart nach der Digitalisierung“ des DFG-Projekts „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung“ einen Vortrag, in dem ich einen Versuch anstellte, eine ‚Phänomenologie des Buffering‘ zu entwerfen, wie es uns in Form des sich drehenden Throbber-Icons tagtäglich u.a. auf Twitter begegnet. Als Phänomen des Übergangs signifiziert es – so in etwa meine These – einen Moment der Gegenwartsherstellung, in dem sich das Virtuelle aktualisiert, in dem der Feed geupdatet wird und die Plattform die Frage, die sie an die User:innen richtet („Was gibt’s Neues?“), einmal selbst beantwortet. Um die Spezifik dieser Situation zu veranschaulichen, griff ich in meiner Beschreibung auf das Bedeutungsfeld des Gespenstischen zurück: In Anlehnung an Derridas einschlägig gewordene Betrachtungen zu einer hantologie lässt sich der Bufferingprozess in den Sozialen Medien als eine Form der ‚conjuration‘, der Herbeibeschwörung beschreiben, als eine „magische Beschwörung, die dazu bestimmt ist, einen Zauber oder einen Geist zu evozieren, ihn mittels der Stimme zum Kommen zu veranlassen, ihn herbeizurufen“. Gemeint ist damit „grob gesagt de[r] Appell, der durch die Stimme zum Kommen veranlaßt wird und also per definitionem das zum Kommen veranlaßt, was im gegenwärtigen Augenblick des Appells nicht da ist.“[i]

Postdigitale ‚Gespensterwörter‘

Die Rolle der Stimme, also des Appells oder der Ansprache nimmt hier – zumindest in der Interaktion mit der Twitter-App – der Daumen des:der User:in ein, der:die den Touchscreen und damit das Frontend-Interface bedient. Dieser veranlasst die seit der letzten Aktualisierung erstellten Postings, sich aus ihrer virtuellen in die subjektive Gegenwart des:der Anwender:in zu manifestieren, beschwört sie Gespenstern gleich herbei. Das Gespenst ist (nicht nur) bei Derrida eine Figur des Virtuellen und des Übergängigen zwischen der Gegenwart und ihren vermeintlichen Gegenstücken, des Noch-nicht und des Nicht-mehr. Gerade in der postdigitalen Medienumgebung, in der wir uns mithilfe unserer devices bewegen, in denen es sich oft so anfühlt, als würden sich verschiedene – analoge und digitale, reale und virtuelle, online- und offline- – Gegenwarten überlagern, sind Beschreibungsversuche mithilfe von ‚Gespensterwörtern‘ naheliegend: Heimsuchung, Herbeibeschwören, der Spuk,das Unheimliche, die Séance etc.

Tendenziell hielt ich also den Ansatz, die Motivik des Gespenstischen auf das Buffering in den Sozialen Medien zu beziehen, für durchaus gerechtfertigt, um so mehr fiel mir jedoch in der anschließenden Diskussion eine Gefahr auf, die ich zuvor nicht berücksichtigt hatte: Mir schien, als sei mein Befund (‚Buffering hat eine Dimension des Gespenstischen‘) zumindest teilweise so aufgefasst worden, als solle damit eine bedauernde, kulturkritische Stoßrichtung formuliert werden. Anstatt einer in einer wie auch immer gearteten ‚echten‘ lebe man demnach (nur) in einer von Gespenstern heimgesuchten und damit traumatisierten Gegenwart mehrerer Virtualitäten, die sich überlagern und die Subjekte dieser Gegenwart überfluten und überfordern.

Gespenster als Figur eines konservativ-kulturpessimistischen Ressentiments

Die Formulierung einer derartigen Perspektive war keineswegs von mir intendiert, kann aber natürlich meinen Ausführungen geschuldet sein. Aufmerksam macht mich die Diskussion jedoch auf eine Tatsache, die ich in meiner subjektiven Beschäftigung mit einerseits den Gespenstern und andererseits den Schreibweisen nach der Digitalisierung, etwas aus den Augen verloren hatte. So sind Gespenster eben auch immer schon die Figur eines konservativ-kulturpessimistischen Ressentiments. Etwas Bedrohliches lauert darauf, sich aus der Zukunft in unserer Gegenwart zu manifestieren oder als Wiedergänger aus der Vergangenheit zurückzukehren, um sich, Hamlets Gespenst gleich, für ein begangenes Unrecht zu rächen. Eine solche Gefahr müsse, so die kulturpessimistischen Positionen, natürlich abgewendet werden. Gerade das sich ankündigende Marxsche „Gespenst des Kommunismus“ ist es ja, das für Derrida zum Ausgangspunkt der hantologie wird, wenn es die „Mächte des alten Europa“ zu einer „heiligen Hetzjagd“ zusammenführt[ii], und das zum Zeitpunkt von Derridas Schreiben erneut zum Gespenst geworden ist, das Apologeten einer „besten aller möglichen Welten“ des Kapitalismus wie Francis Fukuyama per Deklarierung eines „Endes der Geschichte“ auszutreiben versuchten. Ein Sprechen über Gespenster zeigt so auch etwas an, was gerade von Verfechtern einer authentisch und eindeutig erfahrbaren Gegenwart als bedrohlich imaginiert wird, was aus dieser Gegenwart ausgeschlossen werden soll.

Es ist also kein Wunder, dass sich eine solche Perspektive im Reden über das Internet oder die Sozialen Medien wiederholt. Gerade die Kritik an etwas ‚Unechtem‘ – verkürzt lässt sich unter ‚virtuell‘ eben auch das Gegenteil von ‚real‘ verstehen[iii] – schlägt sich hier nieder. Ein Beispiel wäre das Reden bzw. Schreiben über Bots, das durchzogen ist von Gespenstermetaphern. So werden etwa die „so genannte[n] Social Bots und Fake-Accounts“, die auf Twitter Politiker:innen verschiedener Parteien folgen, als „digitale Gespenster“ bezeichnet, die „wahllos tausenden Accounts mit dem Kalkül [folgen], im Gegenzug ebenfalls gefolgt zu werden“[iv]. Die Heimsuchung eines Gespenst ist allerdings, so genau sollte man auch in der metaphorischen Verwendung des Begriffs sein, keinesfalls ‚wahllos‘, sondern signifikant: Wer oder was von einem Gespenst heimgesucht wird, hat eine Bedeutung. Unheimlich oder gespenstisch wird es im Umgang mit Bots erst, wenn sie, von Posting-Algorithmen gesteuert, auf gewisse Hashtags und die dazu verfassten Tweets reagieren[v] und man sich fragen muss, nach welchen Gesetzmäßigkeiten ihre Textgenerierung abläuft.

Das ‚Gespenst eines Twitter-Mobs‘

Auf einen anderen Aspekt weist Dirk Peitz auf Zeit Online hin, der die Diskussion um die Kabarettistin Lisa Eckhart und eine vermeintliche Cancel Culture, die in erster Linie auf Social Media Verbreitung findet, als eine „Gespensterdebatte“ kommentiert, ausgehend davon, dass „Gespenster […] ein paar unangenehme Eigenschaften [haben]. Sie sind zum Beispiel Wesen, deren Existenz sich weder letztgültig beweisen noch widerlegen lässt.“[vi] Die Konnotation des Bedrohlichen verbindet sich mit dem Imaginierten, in den Sozialen Medien finden sich ‚Twittermobs‘ und Trolle, die sich auf jeden Fehltritt stürzen und Shitstorms erzeugen. So zumindest das Gespenst, das per „extrem vage[r] Rede“ und die Verschleierung „identifizierbare[r] Einzelstimmen“ wieder und wieder reproduziert wird, wie Johannes Franzen sehr treffend bemerkt: „So werden konkrete Menschen, die sich auf Twitter zu einem bestimmten Thema äußern, zu einem Kollektivsingular zusammengefasst, dem man alles Mögliche unterstellen und in den Mund legen kann.“[vii] Ein ‚Gespenst eines Twittermobs‘ ist also für divergierende Analyseperspektiven etwas Unterschiedliches: Während die Kritiker und Social-Media-Skeptiker darunter etwas verstehen, was sie bei einem falschen Tritt in derHaunted Mansion von Twitter heimsuchen wird, beobachten Analysen wie eben die von Franzen ein sich immer weiter erneuerndes Muster einer herbeiimaginierten Bedrohung, welche mit dem Reden über Gespenster (vor allem von kulturkritischer, konservativ-rechter Seite) eben auch assoziiert werden kann.

Und damit käme ich zurück zu den eingangs erwähnten anekdotischen Betrachtungen: Spricht man über Gespenster und ihre Verbindung zu Social Media, kann es naheliegen, dass damit eine Perspektive verbunden ist, die aus kulturpessimistischer Richtung Kritik an Sozialen Medien und den mit ihn vermeintlich verbundenen Momenten der De-Authentifizierung üben möchte. Der Spuk geht dann von einem Schreckgespenst aus, etwas Undefiniertem und Unechten, in das alles Bedrohliche und Unbekannte hineingelegt werden kann, und die Figur des Gespensts wird eine des kulturpessimistischen Ressentiments. Es ließe sich jedoch dafür argumentieren, dass gerade einer solche Vorstellung vom Gespenstischen der Sozialen Medien nach der Digitalisierung interessante und produktive Dimensionen dieses Bedeutungsfeldes abgehen.

Mit den (post)digitalen Gespenstern leben lernen

Einen solchen Versuch leistet etwa die Autorin Julia Knaß in ihrem Textprojekt „draußen 1 gespenst“[viii], welches von dem Befund ausgeht, dass sich Derridas medienphilosophische These, die Zukunft gehöre den Gespenstern, auf die mediale Konstellation unserer Gegenwart beziehen lässt. Dies äußert sich, so Knaß, unter anderem in dem Zusammenspiel bzw. der Gleichzeitigkeit von eigener und fremder An- und Abwesenheit, die für mit einem Smartphone ausgerüstete Menschen alltäglich geworden ist:

Meine eigene Kommunikation im Alltag mit meinen Freund:innen (die meisten wohnen nicht am selben Ort wie ich) gleicht Gesprächen mit Gespenstern (wenn ich Gespenst insbesondere im Fehlen eines physischen, greifbaren Körpers festmache und darin, dass alle anderen Personen, die am selben Ort wie ich sind, nur mich sehen, nicht die Personen, mit denen ich gerade spreche.[ix]

Diesen aufmerksamen Beobachtungen zur Seite tritt ein Gespür dafür, wie gespenstisch etwa Koinzidenzen auf der Timeline anmuten, auf der sich eigene Interessen mit denen anderer vermischen und beeinflussen: „Die (scheinbare) Zufälligkeit, die selben Themen im Schreiben zu wählen, ergibt sich vermute ich, aus ähnlichen Lebenskontexten und der (gegenseitigen) Verstärkung in der Bubble selbst.“[x] Ein produktiver Umgang diese gegenseitigen Beeinflussungen, intertextuellen Heimsuchungsbezüge oder Bezugsheimsuchungen sichtbar zu machen, ist beispielsweise ein Twitterthread, der das Vorkommen des Begriffs „Gespenst“ in verschiedenen Texten notiert.[xi]

Das Bedeutungsfeld des Gespenstischen bietet viel Raum für Fiktionen, der nicht kampflos den Agenten des kulturpessimistischen Ressentiments überlassen werden sollte, deren Gespenster (unechte) Bots und (untote) User:innen, die sich zum ‚Mob‘ vereinen, sind. Stattdessen gilt es, das Potenzial der Verbindung des Unheimlichen und Digitalen zu betonen, hier mithilfe des Gespensts eine Sensibilität für eine spezifisch neue mediale Konstellation zu formulieren, in der die Zukunft zwar den Gespenstern gehören mag, das aber noch lange kein Grund zur Beunruhigung ist, denn die Bewohner:innen dieser postdigitalen Gesellschaft müssen eben „[l]ernen, mit den Gespenstern zu leben, in der Unterhaltung, der Begleitung oder der gemeinsamen Wanderschaft, im umgangslosen Umgang mit den Gespenstern.“[xii]

Philipp Ohnesorge

 

[i] Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale [1993]. Frankfurt a. M. 2004. S. 63.

[ii] Karl Marx u. Friedrich Engels: „Manifest der Kommunistischen Partei“. In: Dies.: Werke. Bd. 4. Berlin 1972. S. 459-493. Hier S. 461.

[iii] Vgl. zu „Virtualität“ und ihrer Abgrenzung von anderen Begriffen etwa Elena Esposito: „Fiktion und Virtualität“. In: Sybille Krämer (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M. 1998. S. 269-296. Hier insbesondere S. 269.

[iv] O. V.: „Viele Politiker haben überwiegend Fake-Follower“. www.faz.net/aktuell/politik/inland/twitter-analyse-viele-politiker-haben-ueberwiegend-fake-follower-14749846.html, 2017 [zuletzt eingesehen am 21.8.2021].

[v] So passierte es etwa auf der eingangs erwähnten Tagung, dass sich die auf Twitter aktiven Teilnehmer:innen über die Posts der vom kurzzeitig trendenden Hashtag #ggw2021 angelockten Bots wunderten. Vgl. bspw. Barbara Vue [@BarbaraVue3]: „Is the attach activity better than the signature? What if the financial salt ate the usual?“ [Tweet]. twitter.com/BarbaraVue3/status/1413579541013012480, 9.7.2021 [zuletzt eingesehen am 21.8.2021].

[vi] Dirk Peitz: „Wie einmal die Cancel Culture nach Hamburg kam“. In: Zeit Online. www.zeit.de/kultur/literatur/2020-08/lisa-eckhart-comedian-cancel-culture-hamburg, 2020 [zuletzt eingesehen am 21.8.2021]

[vii] Johannes Franzen: „Die Fiktion der gesichtslosen Meute“. In: Übermedien. uebermedien.de/54754/die-fiktion-der-gesichtslosen-meute/, 2020 [zuletzt eingesehen am 21.8.2021].

[viii] Julia Knaß: „draußen 1 gespenst“. abwesenheitsnotizen.at, o. J. [zuletzt eingesehen am 21.8.2021].

[ix] Ebd.

[x] Ebd.

[xi] Vgl. Julia Knaß [@liaghtsout]: „GESPENST in random texten, die ich lese“ [Twitterthread]. twitter.com/liaghtsout/status/1330115184426446848, 21.11.2020– [zuletzt eingesehen am 21.8.2021].

[xii] J. Derrida, Marx’ Gespenster, S. 10.

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