Wer Twitter aus literaturwissenschaftlicher Perspektive erforscht, hat immer noch den Vorteil, dass viele Aspekte dieses Zusammenhangs wenig betrachtet sind. Man sieht sich jedoch zugleich damit konfrontiert, dass es, auch wenn nicht alle Herausforderungen völlig neu sind, wenige Routinen und Konventionen gibt, wie man in der Beantwortung von Forschungsfragen vorzugehen habe. Zudem hat man es mit dem Vor- und Nachteil zu tun, dass der Gegenstand der Forschung selbst dynamisch ist, sich verändert und plötzlich neue Features wie zuletzt die Fleets auftauchen können. Für das literarische Schreiben ist Twitter aus mehreren Gründen besonders interessant: Die Längenbegrenzung scheint zu Experimenten zu provozieren und das im Vergleich zu Facebooks Friends-Prinzip offenere Follower-Prinzip verspricht eine weitere Verbreitung der eigenen Texte. Durch seine Textfokussierung ist Twitter für literarisch Tätige eine naheliegende Publikationsmöglichkeit und setzt zugleich einen anderen Schwerpunkt als Instagram oder TikTok, wo retweetähnliche Funktionen nicht vorgesehen sind. Wie im Fall der anderen Plattformen findet das Lesen und das Schreiben auf Twitter in einem sozialen Kontext statt. Das heißt im Wissen, dass der Text auf ein kommentierendes und möglicherweise mit dem Text als Material weiterschreibendes Publikum treffen wird, zu dem sich die Schreibenden und Lesenden auf die eine oder andere Weise bewusst und unbewusst verhalten. Wie wir in unserem auf 54books erschienenen Beitrag mit dem Titel „Mehr als Twitteratur“ hervorgehoben haben, ist Twitter zudem nicht nur für das literarische Schreiben, sondern auch für den Literaturbetrieb und den Kulturjournalismus von großer Relevanz. Auf der Plattform findet eine Ausdifferenzierung von Schreibweisen statt, die einerseits Anleihen aus verschiedenen Kontexten nimmt, andererseits auch plattformspezifisch ist. Insofern kommt Twitter in der Frage des literarischen Schreibens nach der Digitalisierung eine besondere Rolle zu.
In der Forschung zu Twitter gab es zwar einen frühen literaturwissenschaftlichen Anstoß mit der Studie Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen von Sandra Annika Meyer und Jan Drees, die 2013 im Frohmann Verlag erschienen ist, allgemein kommt die Forschung zu Literatur und Social Media aber erst langsam in Gang. Dies steht im Gegensatz zu anderen Disziplinen wie den Medien- oder Sprachwissenschaften, wo soziale Netzwerke schon größere Aufmerksamkeit gefunden haben. Vor diesem Hintergrund wollen wir noch einmal fragen: Wie Twitter literaturwissenschaftlich erforschen? Beziehungsweise, um den Projektfokus noch deutlicher zu machen: Wie Twitter in Bezug auf Zeitkonzepte literaturwissenschaftlich erforschen? Diesen Fragen widmete sich am 10. Dezember 2020 ein wissenschaftlicher Workshop des DFG-Projekts „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung“ mit mehreren auswärtigen Gästen in einem vom Alfried Krupp Wissenschaftskolleg zur Verfügung gestellten digitalen Meetingraum.
Den Auftakt des Workshops bildete ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Johannes Paßmann (Universität Siegen). Paßmann hat mit Die soziale Logik des Likes (2018) eine grundlegende Untersuchung der ersten Jahre des deutschsprachigen Twitter vorgelegt. Zentral für seine Studie ist die Methode der Technografie, eine vom Medium aus gedachte Form der teilnehmenden Beobachtung. Auf diese Weise sollen mediendeterministische und praxisdeterministische Fehlschlüsse vermieden werden. Eine Prämisse dieser teilnehmenden Beobachtung ist „Follow the update“. Erst durch Veränderungen auf den Plattformen wird sichtbar, etwa durch Beschwerden der User*innen über diese Veränderung, was die alte Version bedeutet hat, weil es dann artikuliert werden muss. Insbesondere zur Analyse verschiedener User-Netzwerke auf Twitter hat Paßmann auch digitale Methoden eingesetzt. Mithilfe ethnologischer Theorien der Gabe konnten dann die Logik der Anerkennung über Likes und Retweets rekonstruiert werden. Diese Logik der Anerkennung basiere unter anderem auf der Vagheit dieser Einheiten. Man muss nicht genau formulieren, warum man etwas liket oder retweetet. In Bezug auf zeitliche Fragen hob Paßmann hervor, dass Twitter zwar einerseits die Konnotation von Geschwindigkeit habe, andererseits aber soziale Prozesse der Anerkennung wie in Zeitlupe sichtbar mache. „Geschwindigkeit ist auf Twitter absolut relevant. Aber die Frage der Langsamkeit wird zu häufig vernachlässigt“, so Paßmann. Ein Beispiel dafür wäre die genaue Auflistung von Likes und Retweets im „Stream der Einheiten“, den alle Social-Media-Plattformen teilen. Im Zuge dessen hat Paßmann auch eine Ästhetik aufgezeigt, die sich durch die Ausrichtung auf die spezifische Logik der Anerkennung auf Twitter ausgebildet hat. Als literarisch würde Paßmann alle Praktiken sehen, die sich selbst als solche bezeichnen. Elias Kreuzmair stellte im Gespräch zur Diskussion, ob man nicht auch literarische Texte als eine Form der Störung betrachten könnte, anhand derer man etwas über das Medium Twitter erfahren könne.
Im ersten Vortrag des Tages präsentierte Maren Jäger (HU Berlin) eine Genealogie der „ballistischen Ästhetik“ (Joseph Vogl) von der Antike bis in die Gegenwart. Ausgehend von den Spartanern, über Cicero und Plutarch bis zu Gracian, von Bertolt Brechts Kriegsfibel bis zu Donald Trumps Tweets diskutierte sie Kürze in verschiedenen Bereichen. Im Besonderen widmete sie sich der antiken Poetik und Rhetorik, den Formen der Sentenz und des Epigramms bis zu Twitter. Ihr besonderer Blick galt im Zuge dessen Beschreibungen der Kürze, die sich eines ballistischen Vokabulars bedienen. Jäger ordnete ihre Überlegungen jeweils nach Schütze, Arsenal, Flugbahn und Wirkung. In Bezug auf letztere hob sie hervor, dass diese sowohl auf Vernichtung des Gegners zielen können als auch auf die Provokation von Anschlusskommunikation. Trump würde beispielsweise gar keine Antwort auf seine Tweets erwarten und auch nicht mit anderen User*innen ins Gespräch kommen. Im Fokus stand also insbesondere das agonale Moment der Kürze. Jäger hob die Gegenwärtigkeit von Tweets hervor: Tweets seien Bildschirmgeschosse „tendenziell aus dem Jetzt, im Jetzt, für das Jetzt. […] Alles feuert gleichzeitig: Jetzt!“ In der Diskussion des Vortrags wurde dieser Beschreibung größtenteils auch in Bezug auf Twitter zugestimmt. Eckhard Schumacher regte an, den Begriff der Ballistik gewissermaßen zu entmilitarisieren und auch im weiteren Sinn des physikalischen Konzepts als ‚Lehre von geworfenen Körpern‘ zu verwenden, um damit noch weitere Aspekte der Beweglichkeit, der Mobilität der Kürzest-Kommunikation in den Blick rücken zu können.
Nach der Mittagspause stieg Mareike Schumacher mit ihrem Vortrag „Kurz und schnell, lang und langsam? Zur Zeitkategorie in Saša Stanišićs Roman Vor dem Fest und in seinen Twitterbeiträgen“ direkt in die digitale Analyse von digitalen Texten mithilfe der Online Tools StanfordNER und Catma (https://app.catma.de/catma/) ein. Neben Einblicken in das Arbeiten mit diesen Tools präsentierte Schumacher ihre Ergebnisse zur Gegenüberstellung des Romans und der sehr vielseitigen Tweets von Saša Stanišić, die von Anekdoten, Werbung und Interkationen mit anderen User*innen geprägt sind. In diesem Zusammenhang warf sie auch die Frage auf, inwiefern die Texte über die Autorschaft verbunden sind und hinterfragte eine Überhöhung der Tweets als fortlaufendes Narrativ. Grundlage für die Analyse sind Texte des Romans und der Tweets, wobei beide Korpora um die 63.000 Token umfassen. Innerhalb dieses Korpus markierte Schumacher Wörter mit Zeitinformationen und -angaben und stellte uns folgende Ergebnisse vor: 1. Das präsentische Erzählen ist in beiden Texten dominant und die Zeitinformationen werden über Verben transportiert. 2. Die Tweets weisen eine Linearität mit Amplituden auf, der Roman hingegen Gegenwartserzählungen im Wechsel mit Vergangenheitsformen. 3. Ein wichtiges Thema in beiden Texten ist Identität – Twittern ist ein identitätsstiftender Prozess, indem sich auch eine Gruppenidentität bildet, das Wir des Dorfes im Roman wird durch Geschichten geschaffen. Während Twitter also „was Kurzes und was Schnelles“ hat, zeigt sich im Roman eine „zeitlose Aktualität mit abwechselnder Zeitstruktur“ und einer eigenen Dynamik. Digitale Analysen bieten spannende Anknüpfungspunkte für weitere Analysen, beispielsweise wurde das Analysieren von Netzwerken auf Twitter diskutiert, das sich sehr von der Netzwerkanalyse narrativer Texte unterscheidet. Des Weiteren ergaben sich Fragen nach dem Umgang mit Autorschaft, dem Charakter eines Werkes und der Ambiguität bei Twitter und den Tools.
Anschließend erweiterte Ann-Marie Riesner den Fokus des Workshops auch auf andere soziale Medien, indem sie in ihrem Vortrag „Zeitdeckendes Erzählen und widerstandsloses Posten: Stefanie Sargnagels Schreiben in Sozialen Medien als satirische Inszenierung von Unmittelbarkeit und Medienvergessenheit“ nicht nur auf Twitter, sondern auch auf die Aktivität Sargnagels auf Instagram einging. Die Texte Sargnagels blieben bei Twitter und Instagram gleich, lediglich die Präsentation dieser Inhalte unterscheide sich und passe sich den medialen Besonderheiten der Plattformen an. Riesner erkennt in Sargnagels Schreiben drei Phasen: Von 2010-2015 gibt sie Callcenter-Dialoge wieder, von 2015-2017 reflektiert sie Medien und Hardware und ab 2018 vergleicht sie Plattformen und das Schreiben mit und auf ihnen, wobei Instagram als Spielplatz, Twitter als Ego-Shooter und Facebook als Nervensäge inszeniert wird. Auch andere Apps wie z.B. Tinder finden sich jetzt häufiger in den Texten wieder. Nach Riesner ist Sargnagels Schreiben davon geprägt, „sich als facettenreiche Kunstfigur selbst [zu] erschaffen“. Ihr Schreiben ist keine Blackbox: Materielle, diskursive und soziale Akteure sind konstitutiv für den Post als flüchtige Inskription; Unmittelbarkeitsphantasmen und zeitdeckendes Erzählen werden ad absurdum geführt.
Zum Abschluss für den Workshop-Tag las Ilona Hartmann, die auf Twitter als @zirkuspony schreibt, aus ihren „15.000 schönsten Kurztexten“ und gab damit einen Einblick in ihre Twitterpraxis. Gleichzeitig handelte es sich bei der Lesung um ein Experiment, da sie nicht aus ihrem Debütroman Land in Sicht (2020) vortrug, sondern stattdessen Screenshots ihrer Tweets präsentierte. So gab sie im Verlauf der Lesung und des Gesprächs Einblicke in ihre Twitterlaufbahn, ihr Twitterverhalten und in Dynamiken auf Twitter. Dabei ging sie auf den Wandel der Twitterästhetik ein und nutze als Beispiel das Wegfallen von Interpunktion und Groß- und Kleinschreibung um 2015/16, sie sprach über den Einfluss von Money Boy und Rap auf ihre Art zu Twittern und ging dabei auch auf die Bedeutung der Twitterbubble ein. „Man mag, was man kennt, und man mag, was man oft sieht”, so fasste sie die Entstehung von bubblespezifischen Schreibweisen zusammen. Außerdem unterhielten wir uns über den Wandel von Patterns, wenn beispielsweise ein an das Ende gestelltes „Ihr kennt das“ von der einleitenden Frage „kennt ihr…“ abgelöst wird.Spannend wäre es, der Frage nachzugehen, ob dieser Wandel mit der Erweiterung des Zeichenlimits auf 280 Zeichen einhergeht und somit das gruppenidentitätsstiftende und verbindende Moment aus Gründen der Aufmerksamkeit an den Anfang eines Tweets rückt.
Im Gespräch mit Hartmann hinterfragten wir den Witz von Twitter, der nicht ohne Ironie auszukommen scheint und dabei auf Patterns und Memes setzt. Diese sind einerseits rein sprachlich, funktionieren andererseits auch oft in Kombination mit Bildern, GIFs oder Emotions – wie in diesem Tweet. Twitter ist ein schnelles Medium, was auch die Tweets von @zirkuspony beeinflusst: „Manchmal würde ich mir wünschen, dass ich ein bisschen mehr wie mein Twitteraccount wäre.” Die Geschwindigkeit des Mediums zwingt zur Pointierung. Jedoch lesen sich die Tweets von @zirkuspony weitaus ungefilterter, als es wirklich der Fall ist. Das Persönliche hält sie weitestgehend aus ihrem Account, was sich von ihrem Roman unterscheidet. In diesem erzählt sie die Geschichte vom ersten Kennenlernen einer erwachsenen Tochter mit ihrem Vater auf einer Kreuzfahrt und bezieht damit autobiografische Elemente mit ein. Zwar findet sich im Roman auch ein Hang zu Pointen wieder, jedoch unterscheidet sich die stringente Erzählung sehr von der Aneinanderreihung hauptsächlich witziger Tweets in ihrem Account. Der mediale Wechsel zwischen den Textarten zeichnet sich klar ab, auch wenn Hartmann berichtete, dass sie während des Schreibens immer Twitter geöffnet hatte und zu lange Tweets Einzug ins Buch genommen, es andersherum aber manche Textstellen eben nicht in den Roman, dafür aber zu Twitter geschafft haben. Angesprochen auf die Flüchtigkeit von Tweets merkte sie an, dass Tweets zwar einerseits sehr auf Aktualität und Schnelligkeit abzielen, andererseits auch bleibend und nachlesbar sind und weiter gestand sie: „Ich möchte nicht, dass das ein Zeitzeugnis ist, aber ich fürchte, das wird es.” Als wir ihr von unserem Twitterkorpus berichteten, zeigte sie jedoch großes Interesse und nach kurzer Recherche stellte sich heraus, dass ihr meistverwendetes Wort „ich“ sei – was, wie sie findet, irgendwie auch passe.
Am Ende stehen einige Einsichten und viele neue und neu gestellte Fragen: Literaturwissenschaft kann sich bei der Untersuchung von Tweets nicht alleine auf Texte im engeren Sinn beziehen, sondern muss Möglichkeiten finden, wie beispielsweise GIFs und Interaktionen in die Analyse mit einbezogen werden können. Die aktuellen digitalen Untersuchungsverfahren sind allerdings stark auf Text als Material ausgerichtet. Produktiv ist in jedem Fall, Twitter aus mehreren Perspektiven in den Blick zu nehmen: Mit einem Blick auf medienwissenschaftliche Untersuchungen genauso wie vor dem Hintergrund der Literaturgeschichte, mit digitalen Verfahren genauso wie mit konventionellen literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen. Diese unterschiedlichen Perspektiven akzentuieren je auch den Blick auf die Zeitkonzepte auf unterschiedliche Weise, was die Beiträge im Rahmen des Workshops deutlich zeigten und dabei die Ambivalenzen betonten: Das Schreiben auf Twitter ist schnell und langsam, produziert Kürze und Länge, evoziert Unmittelbarkeits- und Distanzgesten, und arbeitet mit unterschiedlichen Graden des präsentischen Erzählens.
Forschungsliteratur
Avanessian, Armen (Hg.): #Akzeleration. Berlin 2013.
Avanessian, Armen/Anke Hennig: Präsens. Poetik eines Tempus. Berlin, Zürich 2012.
Derrida, Jacques: Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen und andere kleine Seismen. Berlin 1997.
Gross, Raphael/Melanie Lyon/Harald Welzer: Von Luther bis Twitter. Medien und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 2020.
Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Übers. v. Frank Born. Berlin 2010.
Hartog, François: Régimes d'historicité. Présentisme et expériences du temps. Paris 2003.
Hui, Andrew: A Theory of the Aphorism. From Confucius to Twitter. Princeton, NJ 2019.
Meyer, Sandra Annika/Jan Drees: Twitteratur. Digitale Kürzestschreibweisen. Berlin 2013.
Paßmann, Johannes: Die soziale Logik des Likes. Eine Twitter-Ethnografie. Frankfurt am Main/New York 2018.
Paßmann, Johnannes/Schubert, Cornelius: Technografie als Methode der Social-Media-Forschung. In: Handbuch Diskurse Digital. Berlin 2020. ULR: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-67308-2.
Rushkoff, Douglas: Present Shock. When Everything Happens Now. New York 2013.
Wajcman, Judy: Pressed for time: the acceleration of life in digital capitalism. Chicago 2015.
Elias Kreuzmair / Magdalena Pflock