Die Zeit vergeht schnell. Sie bewegt sich nach vorn und zurück und trägt dich weit fort, und keiner weiß mehr über sie, als das: sie trägt dich durch ein Element, das du nicht verstehst, in ein anderes, an das du dich nicht erinnern wirst. Aber etwas erinnert sich – wenn man so will, kann man sagen, daß etwas sich rächt: die Falle des Jahrhunderts, der Gegenstand, der nur vor uns steht.
James Baldwin: Eine Straße und kein Name (1972)
Eine non-progressive Zeit also, die sich gleichzeitig nach vorn und zurück bewegt, und ein etwas, das sich erinnert, das sich rächt, die Sasha Marianna Salzmann mit dem Baldwin-Zitat programmatisch an den Beginn ihres 2017 erschienen Romans Außer sich stellt – ein Konzept von Zeitlichkeit, so würde ich zusammenfassen, das chronologische Kontinuität ablehnt, ohne historische Konsequenzen auszusetzen. Im Zuge dessen verlaufen Prozesse der Identifizierung in Außer sich nicht nur in einer Suchbewegung zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen, sondern entlang einer gewissen narrativen (Un-)Ordnung auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Postmigrantische Zeitlichkeit?
Interessanterweise hat Salzmanns Debütroman sein Verständnis von Zeit mit einigen anderen kürzlich erschienenen literarischen Texten gemein, die (wenn auch entlang verschiedenster Plots) von [post]migrantischen, queeren, weiblichen, transidenten oder non-binären Subjektivierungsprozessen in analeptischer Relation zu Familiengeschichten erzählen und Körper als Orte und Medien der Erinnerung diskutieren. Bezüglich Romanen wie Deniz Ohdes Streulicht (2020), Hengameh Yaghoobifarahs Ministerium der Träume (2021) oder Salzmanns zweitem Roman Im Menschen muss alles herrlich sein (2021) möchte ich deshalb die These aufstellen, dass ein Zusammenhang zwischen der Erzählbarkeit postmigrantischer Identitäten und den Brüchen, Auslassungen und Störungen zeitlicher Ordnung besteht. Postmigrantische Zeitlichkeit wäre dann ähnlich wie Konzepte queerer Zeitlichkeit wie sie beispielsweise Jack Halberstam vorschlägt,[i] eng an die Frage nach Möglichkeit von Subjektivierungen, Beziehungsentwürfen und Biografien gebunden, die sich normativen Abläufen entziehen und aus einem kollektiven, familiären Gedächtnis häufig traumatischer Erfahrungen des Othering schöpfen. Denn genau diese sich im Erzählen entwerfenden Identitäten, so würde ich behaupten, bedürfen der Zufälligkeit historischer Erzählung und narrativer Kontingenz, um sich außerhalb der temporalen Rahmung von unikulturellen, progressiven Herkunftsnarrativen und linearer familiärer Reproduktion zu erzählen.
Auch Außer sich lässt sich im Lichte dieser Überlegungen näher betrachten. Der Roman erzählt im weitesten Sinne eine Familiengeschichte, in dessen Mitte die Zwillings-Figur Ali*Anton steht. Der Roman handelt von Migrationen, von Generationen der Grenzüberschreitungen und immerwährendem Wandel geschlechtlicher Identitäten, die von weiblichen, queeren, non-binären, transidenten, jüdischen und migrantischen Subjektpositionen aus erzählt werden. Er tut dies zwischen den Zeiten, was Salzmann erlaubt, mögliche Vergangenheiten, vage Biographien und ein Familiennarrativ im Konjunktiv in ekstatischen, prekären [Erinnerungs-]Körpern ständig zu aktualisieren.
Zeit als „Drehscheibe“
„,Nur die Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen, denn es ist mir fast unmöglich, ,heute‘ zu sagen, obwohl man jeden Tag ,heute‘ sagt ...‘ Die Zeit ist also ein Heute, von vor hundert Jahren bis jetzt.“[ii] Salzmann zitiert unter dem einleitenden dramatis personaeaus Ingeborg Bachmanns Malina (1971), wo an zitierter Stelle ebenfallsüber die Zeitlichkeit der Erzählung nachgedacht wird.[iii] Wie Bachmanns Zeit ist Salzmanns Zeit ein Heute, ein sich immer wieder neu aktualisierendes Jetzt, gegenwärtige Gegenwart, die in den Erzählungen der Generationen von Eltern, Großeltern und Urgroßeltern um historische Perspektiven, um vergangene Gegenwarten erweitert wird. Während Valja, Alis Mutter, als metadiegetische Erzählerin ihre eigene Biographie chronologisch ordnet und verschweigt, was sie nicht weiß oder fürchtet zu erzählen, füllt Ali*Anton die Lücken der Erzählung mit fiktiven Möglichkeitsvarianten. So verschwimmen Bilder vor ihren*seinen Augen, ständig werden Vermutungen angestellt und Zeit wird für Ali*Anton zur „Drehscheibe“.[iv]
Sie ist von ständigen, stark raffenden, analeptischen Einschüben z.T. in Form ganzer Binnenerzählungen gezeichnet. Auch wenn in diesen weitestgehend chronologisch erzählt wird, entwickelt sich durch den Wechsel von Wahrnehmungsinstanzen zwischen den unterschiedlichen Generationenerzählungen nie ein kontinuierliches Bild von kausaler Geschichte. Viel eher entsteht in dem Versuch der Erzählinstanz, die eigene Familiengeschichte in Anlehnung an die Erzählung Valjas und die Notizen des Großvaters Schura nachzuvollziehen, eine kontingente Darstellung. Denn Ali*Anton erzählt auch Erinnerungen, die nicht die eigenen sind und darüber hinaus von Erfahrungen der Diskriminierung, politischer Verfolgung und Krieg gezeichnet sind. Am Ende der Kapitel folgt häufig eine reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Verfasstheit als Erzählinstanz. Erzählte Zeit und Erzählzeit schieben sich somit permanent ineinander und überlagern sich unter dem Eindruck von Erzählzyklen. In dieser immer wiederkehrenden Anbindung der Generationsgeschichten an die Erzählzeit liegt damit die Möglichkeit einer Kotemporalität erzählter Vergangenheiten sowie fiktivem Jetzt des Erzählzeitpunkts.
Parasitäre Erinnerungen
Erinnerungen werden zeichenhaft wiederaufgenommen, in andere Sprachen verschoben und körperliche Erfahrungen der Gewalt, Entfremdung und Entgrenzung, die die Familienmitglieder miteinander teilen, organisieren diese Gleichzeitigkeit von Zeitebenen. Durchweg werden Sätze wie „Поpа, пора порадуемся на своём веку – Es ist an der Zeit“[v] oder Geschehnisse in verschiedenen Geschichten wiederholt, was die Figuren zwar untereinander verbindet, die Abfolge der Geschehnisse als logische Anreihung der Kontinuität jedoch in Frage stellt. Das Erbrechen beispielsweise, das schon Alis Großmutter Emma ereilt, nimmt der Text mit dem Motiv des Hähnchengeschmacks immer wieder auf, der in Alis Leben Momente der Grenzerfahrung markiert. Er führt mit der heftigen Reaktion auf Trauma vor, wie Erinnerungen in Außer sich als in Körper eingeschriebene Erfahrungen und Affekte in andere Zeiten transferiert werden.
Folglich ist es Ali*Antons Wahrnehmung der geteilten Erinnerungen als Erzählinstanz, die für die zeitliche Struktur ausschlaggebend ist: „Ich habe Russisch vermisst, dachte Ali. Aber ,Vermissen‘ kann man nicht denken. Sie wusste nicht, was sie alles vermisste, und wenn sie anfing, es zu denken, dann gäbe es erst Platz dafür, warum also. Ihre Mutter hatte es einmal gesagt, irgendetwas mit Gedanken, die Parasiten sind, aber ihr fiel die Formulierung nicht ein“.[vi] Woran sich Ali meint vage zu erinnern, expliziert Valja an späterer Stelle: „Die Erinnerung ist ein Parasit, fang ihn dir lieber nicht ein, sonst geht es dir wie mir, kannst gar nicht aufhören“.[vii] Während die parasitären Erinnerungen bei Valja in zoomorpher Form bereits für eine Art Rückwärtsgewandtheit sorgen, der sie sich nicht entziehen kann, werden sie für Ali zu materialisierter Gefahr im Istanbuler „Sofa, das mich auffressen sollte“[viii], zu einverleibten Erinnerungen, die sich „wie Wanzen [...] unter seiner Haut den Weg bahnten“.[ix] Sich den paratisären Erinnerungen zu öffnen, sich konsumieren zu lassen, sorgt letztlich dafür, dass Ali außer sich sein, tradierte narrative Muster auftrennen und die Suche nach ihrem Bruder mit der Suche nach der eigenen Identität ersetzen kann. Diese Auftrennung narrativer Muster lässt sich in eine regelrechte Auflösung von Zeit als konstanter Kategorie übersetzen.
Die Auflösung der Zeit
Auffallend häufig betont Ali, die Zeit sei angehalten oder abgeschafft,[x] Istanbul eine Stadt außerhalb der Zeit oder ganz ohne Zeit.[xi] Besonders interessant ist dabei Alis Beobachtung, die Zeit sei aus den Fugen, die sie im Hinblick auf die angespannte politische Lage in der Türkei macht, die die Handlung mit den Demonstrationen im Gezi-Park 2013 und dem Putschversuch 2016 rahmt.[xii] Dem Hamlet Zitat „Die Zeit ist aus den Fugen“ schreibt Salzmann gleich mehrere intertextuelle Bezüge ein und erlaubt ihrer* Figur damit, sich „zwischen den Zeiten“ zu positionieren.[xiii] Einerseits klingt neben Shakespeare auch der Titel des 1990 erschienenen Dokumentarfilms Die Zeit ist aus den Fugen von Christoph Rüter an, der die Probenarbeiten zur Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine (1977) am Deutschen Theater in Berlin im Herbst 1989 begleitet und gleichzeitig Demonstrationen auf den Straßen Ostberlins und die Diskussionen im Theater über das Ende der DDR aufzeichnet, also einer wortwörtlichen Auflösung politischer Räume und Institutionen, die ihre bildlichen Parallelen in den Gezi-Park Protesten aus Alis Istanbul finden.
Postmigrantische, queere, non-binäre Identitäten erzählen
Ebenso einleuchtend erscheint auch die Parallele zu Aleida Assmann, die in ihrer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Zeitordnung fragt, ob die Zeit aus den Fugen gera- ten sei.[xiv] Ohne allzu detailliert Assmanns Überlegungen darzustellen, weist sich ihre Analyse des gegenwärtigen Zeitregimes vor allem durch eine optimistische Perspektive gegenüber seiner Vergangenheitsbezogenheit aus und unterscheidet sich so deutlich von den kulturpessimistischen Einschätzungen eines Gumbrecht oder Rushkoff. Die Linearität von Zeit löst sich auch bei Assmann auf und bietet mit Geschichte, die nicht nur von Historiker:innen und Archiven bearbeitet wird, eine Chance vielschichtiger Geschichte bzw. Geschichten zu erzählen. Alis Familiengeschichte, kann man also auch als den Versuch lesen, dieser Chance nachzukommen.
Unter der Prämisse, ein queeres, postmigrantisches, non-binäres Konzept von Narration und narrativer Identität zu entwerfen, führt der Text performativ vor, was seine Figuren oft schmerzlich erfahren: Identifizierungen sind dynamisch und können ambivalent sein. Sie müssen nicht entlang chronologischer, biographischer Plots erzählt werden, sondern schaffen auf verschiedenen diskontinuierlichen Zeitachsen durch überindividuelle Wiederholung von Affekten, Körperschaften und Erfahrungen Verbindungen zwischen den Figuren, Zugehörigkeiten zu Familie, Identifizierungs- oder Nicht-Identifizierungsmomente zu Kategorien wie Religion, Geschlecht oder Nationalität – in Baldwins Worten Zeit bewegt sich nach vorn und zurück, aber etwas erinnert sich.
Hannah Willcox
[i] Jack Halberstam: In a Queer Time and Place. Transgender bodies, subcultural lives. New York: 2005.
[ii] Sasha Marianna Salzmann: Außer sich. Berlin 2017, S. 7 [=AS].
[iii] Vgl. Ingeborg Bachmann: Malina. Frankfurt a.M. 1991 [1971] S. 8.
[iv] AS, S. 275.
[v] AS S. 12 u. 313.
[vi] AS, S. 50.
[vii] AS, S. 274.
[viii] AS, S. 275.
[ix] AS, S. 342.
[x] Vgl. AS, S. 25 u. 44.
[xi] Vgl. AS, S. 123 u. 13.
[xii] Vgl. AS, S. 25.
[xiii] AS, S. 272.
[xiv] Vgl. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen?. München: 2013.