SCHREIBWEISEN-BLOG

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Gegenwart lesen, in der Gegenwart lesen, gegenwärtiges Lesen

Schreibweisen-Blog

Von Hannah Willcox

 

Gegenwärtige Lektürepraktiken sind irgendwo zwischen langsamen, zeitaufwändigen deep reading und aufmerksamkeitsökonomischen skimmen der TBR-Liste, zwischen doomscrolling und gleefreshing, close, distant und scalablereading zu verorten. Schon diese kurze Liste zeigt, dass neue Lektürepraktiken nach der Digitalisierung auffällig häufig eine zeitliche Dimension ansprechen. Sei es in literarischen oder zeitdiagnostischen Texten, in digitalen Social-Reading-Communities oder methodischen Überlegungen zum Lesemodus, die Relation von Zeit und Lektüre hat sich nach der Digitalisierung auf mehreren Ebenen verschoben. Ausgehend von diesem Befund nahm der Workshop „Schreibweisen der Gegenwart: Vom doomscrolling zum deep reading. Zeit und Lektüre nach der Digitalisierung“, der am 15. Juli 2023 im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald stattfand, die Zusammenhänge von Rhythmus und Geschwindigkeit des Lesens, Zeitpunkt und Dauer des Lesens sowie Zeiterfahrung im Lektüreprozess in den Blick und fragte nach der zeitliche Situierung und historische Kontextualisierung von Lektüretechniken und Leseszenen. Mit Beiträgen aus der Buch-, Kultur- und Literaturwissenschaft sowie den Digital Humanities setzte der Workshop hierbei auf zwei Ebenen an: Zum einen hoben die Beiträge auf die Analyse digitaler Lesepraktiken und Lektürestrategien im digitalen Raum und ihrem Verhältnis zur Zeiterfahrung im Lektüreprozess ab, zum anderen wurden konkrete Leseszenen in den Blick genommen, um Verfahren, Figuren und Metaphern des Lesediskurses und ihre zeitlichen Aspekte im Schreiben über das Lesen zu untersuchen. Mit einigen Willkommensworten eröffnete Elias Kreuzmair den Workshop und rückte mögliche Problemstellungen und Forschungsfelder in den Vordergrund. Dazu positionierte er das Workshop-Thema ,Zeit und Lektüre nach der Digitalisierung‘ im Kontext des DFG-Projekts „Schreibweisen der Gegenwart“ sowie einer Reihe von Veranstaltungen, wobei ein erster Greifswalder Workshop, „Schreibweisen der Gegenwart: Lesen / Schreiben“, bereits 2017 den Auftakt zur Auseinandersetzung mit ,Leseweisen der Gegenwart‘ markierte.

 

Erika Thomalla schloss daraufhin mit dem ersten Beitrag des Tages an und untersuchte die Formel des ,Speed readings, ohne Druck‘, die sie aus Lektürestrategien in Social-Reading-Communities isolierte. Dabei nahm sie populäre, soziale Lesepraktiken auf Social Media in den Blick und untersuchte, inwiefern etablierte Lesediskurse dort Anwendung finden. Besonders auf Booktube beobachtete sie eine formale Selbstverpflichtung der Lesenden zu hohem Buchkonsum und schneller Lektüre. Diese sei gleichzeitig von der Vorstellung des langsamen Lesens begleitet, um den Autor*innen im Sinne einer hermeneutischen Ganzheitslehre gerecht zu werden. Um Quantität und Qualität der Lektüre in Einklang zu bringen, entwickelten die Lesenden auf unterschiedlichen Plattformen jeweils unterschiedlichen Strategien, was zu Vergleichsdynamiken und Fragmentierungen der Communities nach Plattformen führte. Im Umgang mit der vermeintlich flachen Lektüre auf Bookstagram oder BookTok, würden Buchblogger*innen und Booktuber*innen ein deep reading empfehlen. So entstünde eine Ausdifferenzierung der digitalen Lektürewelt, der das etablierte Wertesystem von positiver tiefer Lektüre und negativer flacher Lektüre unterliege. Störungen erfahre es an der Stelle, an der Selbstdarstellung und Marketingverfahren der Lesenden eine besonders schnelle Lektüre voraussetzen. Dies gab in der Diskussion vor allem Anlass noch einmal über die unterschiedlichen Wertekonzepte der einzelnen Plattformen, die die Konkurrenz untereinander begünstigten, nachzudenken und nach Ausnahmen zu fragen, in denen sich z.B. Affirmationen flacher Lektüre beobachten ließen.

 

Auch Franziska Wilke beschäftigte sich in ihrem Beitrag zu Kontinuitäten und Brüchen in der digitalen Lesepraktik mit Zeiterfahrungen im Lektüreprozess und strebte den Vergleich dreier digitaler Prosaprojekte an. Unter den Bedingungen der Digitalisierung würden Lesezeiten ungewiss und Lesende begegneten der zunehmend komplexen Infrastruktur digitaler Texte mit unterschiedlichen Formen des Lesezeitmanagement. Wilke fasste diese Praktiken mit den Begriffen des Instant-Lesedispositivs und des Anwendungspalimpsests zusammen und fragte im Anschluss, nach ihrem Verhältnis zu digitalen Texten. Die Textstruktur von Susanne Berkenhegers Zeit für die Bombe (1997/2013) ließe Lesenden offen, ob sie verweilend lesen wollten oder im spielerischen Modus immer weiterklickten. Diese Text-Immersion veränderte sich 2013 mit der Veröffentlichung des Projekts als App, in die neue Features der Lesezeitmanipulation integriert waren. Anders verfuhr Tilmann Rammstedts Morgen Mehr (2016), das als Roman-Abo portioniert vom Verlag an eine abonnierte Leser*innencommunity distribuiert wurde. Die so entstehende Echtzeitliteratur, in der die Austauschkommunikation zwischen Lesenden nur vermeintlich gleichzeitig stattfinde, betone besonders die Möglichkeit, Leseort und -zeit am digitalen Endgerät selbst zu bestimmen. Eine noch individuellere Ausdehnung der Lesezeit in einem solchen Instant-Lesedispositiv würde hingegen das bpb-Projekt Der Mauerfall und Ich (2019) bieten. In einer simulierten Echtzeitkommunikation könnten Lesende im Chatbot-Format Leseumfang und -zeit optional erweitern. Wilke legte zusammenfassend einen besonderen Fokus auf die kontrastiven Zeiterfahrungen, die durch die Kombination von Lesezeitphasen und Lesemodi in Anwendungspalimpsesten und Instant-Lesedispositiven entstünden.

 

Nach der Mittagspause beschäftigte sich Elias Kreuzmair mit Szenen des Lesens und Lektürereflexionen in digitalisierungskritischen Zeitdiagnosen. Während Lesen nach der Digitalisierung zwar an bewährte Dichotomien des Lesediskurses anschließe, sei es verstärkt von Beobachtungen irritierender Formen von Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung flankiert. Kreuzmair betrachtete diese Simultanitäten auf drei Ebenen: Erstens stellten Texte wie Douglas Rushkoffs Present Shock (2004) oder Christiane Frohmanns Präraffaelitische Girls erklären das Internet(2018) in Folge einer Verfügbarkeit mehrerer Optionen im digitalen Interface ein verändertes Zeitempfinden der Gleichzeitigkeit fest. Eine Lesepraktik des hektischen Klickens auf einer Oberfläche werde hier durch Metaphern der Malerei veranschaulicht und deute die Lektüre einer als zweidimensional wahrgenommenen postdigitalen Welt an. Auf Ebene der Wissensordnung setzten zweitens Texte wie Viktor Mayer-Schönbergers Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten (2010) oder Hans-Ulrich Gumbrechts Unsere breite Gegenwart (2010) an. Demnach drohe die Digitalisierung mit einer Unlesbarkeit der Welt, in der Wissen zwar zugänglicher denn je, Synthese und Abstraktion aber zunehmend unmöglicher würden. Visualisiert in literarischen Gelehrtenfiguren des 20. Jahrhunderts werde Lesen zur Mnemotechnik. Auf einer dritten Ebene, wie sie in Maël Renouards Fragmente eines unendlichen Gedächtnisses(2018) oder Holger Schulzes Ubiquitäre Literatur. Eine Partikelpoetik (2020) zu finden sei, werde Lesen emphatisch zum grundsätzlichen Modus der Weltwahrnehmung. Fokussiert auf die Gegenwart und angelehnt an immersive Lyriklektüre gebe der Lektomaniker den Unterscheid zwischen Nichtlektüre und Lektüre auf: Lesen werde Leben. Die Diskussion eröffnete noch einmal Fragen um die Übertragbarkeit genereller Kritik an zeitdiagnostischen Texten auf ihren Lektürebegriff und die performative Dimension des Lesens in diesen.

 

Matthias Bickenbach widmete sich im darauffolgenden Beitrag literarischen Texten und fragte nach dem Verhältnis von Vielfalt und Einfalt des Lesens in digitalen Dystopien. Er stellte zunächst die Hypothese in den Raum, dass unter digitalen Bedingungen nicht zwangsläufig genauer, gründlicher oder analytischer gelesen würde, sondern variablere Lesende entstünden, die er im Folgenden anhand der Darstellungen von Lektüren in digitalen Dystopien zu überprüfen suchte. Wie Marc-Uwe Klings Qualityland (2017) fehle es auch Thomas Raabs Die Netzwerk-Orange (2015) an lesbaren Büchern, für die stattdessen KI-geschaffene und staatlich instrumentalisierte Tier-Fabeln eingesetzt würden. Diese dienten intradiegetisch als bio-politische Maßnahme der Sedierung, was die besonders problematische Urheberschaft der KI verdecke und in der permanenten Ausrufung einer Revolution im geschlossenen System der Fabellektüren eben diese verunmögliche. Das von Eugen Ruges Follower (2016) angewendete Verfahren des inneren Gedankenstroms, erzeuge hingegen Totalisierungseffekte der Lesezeit. So fasste Bickenbach zusammen, dass die Vorstellung von vielfältigen Lektüren in den untersuchten Dystopien nicht eingehalten würde. Statt Darstellungen flexibler werdenden Lesens ließen sich Vereinheitlichung der Lektüremodi beobachten. Die Diskussion zum Vortrag betrachtete derweil die kulturkritische Dimension, in die sich einige der Texte aufzulösen schienen und ihre Alternativen sowie die Darstellungen umgekehrter Leserichtungen: Lesen Maschinen Menschen?

 

Im Anschluss gab Kristina Petzold einen Einblick in ihre aktuelle Forschung zur Gegenwärtigkeit digitaler Lesepraktiken am Beispiel der Stilometrie. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sei der vermeintliche Widerspruch zwischen Gegenwärtigkeit der digitalen Methodik der Stilometrie und ihrer Diskursivierung als eine an ältere, literaturwissenschaftliche Forschungstraditionen angelehnte Methode. Aus verschiedenen Gegenwärtigkeitsaspekten, leitete Petzold Fragestellungen zur Untersuchung eines Korpus von elf stilometrischen Aufsätzen ab. Zunächst fragte sie nach dem Verhältnis zwischen close und distant reading in den untersuchten Beiträgen und isolierte zwei Lektüretypen. Zum einen beobachtete sie ein rein distantes Lesen in methodologisch orientierten Beiträgen, die einen z.T. explizit (kritischen) Abgleich mit hermeneutischen Verfahren beinhalteten. Zum anderen erfolge eine oft explizite Einordnung des eigenen Vorgehens zwischen den Polen, wie es beispielsweise das scalable reading ermögliche. Daraufhin schenkte Petzold dem Stilbegriff ihre Aufmerksamkeit, der stilometrischen Analysen als offene Zielkategorie zugrunde läge. Es zeigte sich eine starke Ausrichtung auf die Autor*innenschaft, wobei diese inhaltlich häufig unscharf bliebe und als Rückwärtsgewandtheit verhandelt würde. Letztlich fragte Petzold, wie das Verhältnis von traditioneller Stilistik und digitalen Methoden diskursiviert und praktisch umgesetzt würde. Einerseits erfasste sie eine methodologische Ingroup, die das Verhältnis kaum oder gar nicht thematisiere, in der Regel jedoch literaturwissenschaftliches Kontextwissen verwende. Andererseits machte sie syntheseorientierte content manager aus, die die dichotome Feldstruktur problematisieren würden, um durch kombinierendes close und distant reading eine methodologische Schnittstelle zu bilden.

 

Zum Abschluss des Workshops las Wolfram Lotz aus Heilige Schrift I (2022) und sprach über seinen Schreibprozess und die Schreibweisen des Textes. Lotz ging zunächst auf die Lebenssituation ein, in der er mit dem täglichen Schreiben an Heiligen Schrift I begann – als Notwehrimpuls gegen das als prekär wahrgenommene Leben auf dem Dorf sei er schreibend durch den Tag gekommen. Eine erste Textversion löschte er, um sich der Verwertbarkeit zu entziehen. Die ersten drei Monate der ersten Schreibphase, die sich als Emailanhang über das Löschen hinaus gerettet hatten, dienten dann als Grundlage für das beinahe 1000-seitige Buch, mit dem er „etwas Monströses, etwas Schreckliches“ habe entwickeln wollen. In Hinblick auf die digitalen Schreibweisen, die dem Text eine gewisse flimmernde Popästhetik verliehen, sprach er sich zwar gegen eine Überzeitlichkeit von Literatur aus, betonte aber gleichzeitig, dass die Flüchtigkeit, die die Gegenwartsbezüge evozierten, einen Text für zukünftige Lesende unbrauchbar machen würde. Lotz las mit gestelltem Handywecker, sprang zwischen den Tagen und erzählte aus dem Leben seiner Familie, dem Schreiben als Seelenhygiene und dem Versuch den zum Meme gewordenen, Pilze sammelnden Peter Handke als Alter Ego im Text zu bannen. Fiktion sei so mitunter der Versuch, sich aus dem Alltag herauszuschreiben, Heilige Schrift Iein „Gegenwartsdokument aus Versehen“.

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