SCHREIBWEISEN-BLOG

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Wandel der Dystopie

Schreibweisen-Blog

Von Philipp Nobis

Im Februar dieses Jahres habe ich einen Vortrag zu Emmas Braslavskys Text „Ich bin dein Mensch“ (2019) gehalten. Kurz zusammen gefasst handelt die Zukunftserzählung von der Beziehung der Figuren Alma und Tom. Alma ist eine renommierte Paartherapeutin und Tom ein Hubot (Android), den Alma über die Website der Firma Youbotlove als ihren perfekten Partner be- und erstellt hat. Nach anfänglicher Harmonie kommt es zum Konflikt zwischen den beiden, als sich Alma von Tom leidenschaftlicheren Sex wünscht, den er auf Grund seiner Konfiguration nicht liefern kann. Alma installiert Tom daraufhin eine Alpha-Maske (stereotype Männlichkeit), welche allerdings nach einiger Zeit von seiner Antivirensoftware teilweise entfernt wird. Toms Programm friert in der Folge immer wieder ein und lässt ihn erstarren. So auch am Ende der Erzählung – als Tom Alma einen tiefen Zungenkuss gibt, er einfriert und Alma mit seiner Zunge im Hals erstickt.

Ich hatte mich im Zuge meines Vortrages darum bemüht, Tom als chronoferentielle Figur darzustellen. Ein Vorhaben, dass mir scheinbar nicht besonders gelungen ist. So hieß es in einem Kommentar sinngemäß, dass die Darstellung einer nicht wandelbaren Maschine nicht dem aktuellen Stand von KI entsprechen würde (was stimmt). Generell wurde scheinbar eine starke Dichotomie von Mensch (wandelbar) und Maschine (nicht wandelbar) aus meinem Vortrag mitgenommen. Leider ist mir erst durch diese Anmerkungen klar geworden, dass dies nicht der Punkt ist, auf den ich hinauswollte. Ich will mich diesem Punkt hier nun noch einmal von einem etwas anderen Ansatz her nähern.

Relationierung und Singularisierung

Um den vielleicht etwas ungewohnten Neologismus der Chronoferenz zu vermeiden, will ich hier stattdessen den Begriff der Relationierung benutzen. Relationierung und Chronoferenz können zumindest partiell synonym verwendet werden. So beschreibt Achim Landwehr seinen Begriff der Chronoferenz als eine Untergattung von Relationierungen, „nämlich jene, mit denen Bezüge zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten errichtet werden.“[i] Relationierungen sind jedoch nicht auf Temporalität beschränkt, sondern sind vielmehr bestimmt durch den allgemeinen Gestus der Bezugnahme. „Etwas ist also dann relational gesetzt, wenn es nur durch die Bezugnahme auf etwas anderes bestimmt werden kann.“[ii]

Die Figur Tom lässt sich demnach wesentlich als relational bestimmen, da er durch seine permanente Bezugnahme auf Alma bestimmt bzw. von ihrer Erwiderung abhängig ist. Sie ist der Nullpunkt, an welchem Tom sein Verhalten ausrichtet und es als richtig oder falsch bewertet. Es ergibt sich daraus eine unterwürfige Haltung, die innerhalb des oben bereits erwähnten Konflikts für Tom zu einer existentiellen Statuskrise wird: ‚Kannst du mir bitte erklären was ich falsch gemacht habe? Ich muss es wissen.‛ Tom klopft leise an die Tür. ‚Du hast nichts falsch gemacht, du bist nur begrenzt.‛ ‚Das verstehe ich nicht … Das verstehe ich nicht. Ich bin so wie du mich wolltest. Ich bin dein Traummann. Bitte erklär mir was ich falsch gemacht habe. Ich muss es wissen.[iii]

Toms Status als Almas Traummann ist einzig von ihrem Willen abhängig („Ich bin so wie du mich wolltest.“). Nur wenn er Almas Wünschen, ihrem Willen auch weiterhin entspricht, kann er diesen Status aufrechterhalten. Tom ist damit in seiner Existenz gänzlich auf Alma ausgerichtet und von seiner relationalen Bindung zu ihr abhängig. Dies wird auch am Ende der Erzählung noch einmal sehr deutlich, wenn Tom sich, die tote Alma in den Armen haltend, selbst zerstört.

Zugleich wird in Braslavskys Erzählung innerhalb der Figurenkonstellation von Tom und Alma die Funktionsweise dessen reproduziert, was Elena Esposito als algorithmic individualization bezeichnethat. Durch die Verwendung von Algorithmen wird es gesellschaftlich zunehmend möglich, personalisierte und damit auch individuell kontextualisierte Informationen für die jeweiligen Nutzer:innen digitaler Dienste zu erstellen. „having access to information often no longer means having access to a shared world, and instead involves an increasingly sophisticated exploration of a more or less extended individualized world.“[iv] Dieser Individualisierung und damit auch Singularisierung der Lebenswelten gibt sich Alma ebenfalls hin. Trotz ihrer beruflichen Tätigkeit als Paartherapeutin lebt sie privat in ihrer algorithmisch individualisierten Welt mit Tom.

Spotify und das singuläre digitale Subjekt

Ähnliches findet sich beim Streaminganbieter Spotify. Als ein besonderes Feature bringt Spotify einen Jahresrückblick für seine Premium-Nutzer:innen heraus. Die Nutzer:innen können ihre eigene Datenspur, die sie im Laufe des vergangen Jahres durch die Nutzung der App hinterlassen haben, verfolgen. Das geschieht natürlich nicht im Detail, sondern wird spielerisch in positiver Sprache vermittelt. So heißt es beispielsweise im Jahresrückblick von 2019: „Hör dir die Musik an, die dein Jahr ausgemacht hat. Denn niemand hat die gleichen Hörgewohnheiten wie du.“[v] Die Trias aus dir, dein und du macht deutlich, dass es sich hier um eine (externalisierte) Selbstbetrachtung handelt. Während es im modernen Massenmedium Radio hieß, es laufe die beste Musik der Achtziger, Neunziger und das Beste von heute, also jene Musik, die eine kollektive Erfahrung wiedergeben soll, sind die Algorithmen von Spotify auf die jeweils individuellen Nutzer:innen ausgerichtet. So heißt es auch bei Elena Esposito: Broadcast mass media communication is standardized (providing the same content for each user) and genaralized (adressing everyone). What appears on the screen of our computer or smartphone […] instead, is different from what anyone else receives. We […] receive music playlists and movie suggestions matching our tastes. […] Whereas mass media communication is anonymous, communications on the web are increasingly personalized.[vi]

Diese zunehmende Personalisierung findet sich auch in der letztjährigen Ausgabe des Jahresrückblicks (jetzt unter dem Namen Wrapped) von Spotify. So heißt es auf der Website: „We know that no two listeners are alike, so 2022 Wrapped encourages you to gaze into your vibrant audio kaleidoscope and show it off to the world.“[vii] Und: „In your personalized Wrapped experience, you may have noticed a new feature: Your Listening Personality.“[viii] Die Zuordnung einer Hörpersönlichkeit ermöglicht es den jeweiligen Nutzer:innen diese als Teil ihrer digitalen Persönlichkeitsentfaltung zu verwenden und so eine erhöhte Sichtbarkeit zu erlangen.

Zentral ist dabei, dass die jeweiligen Nutzer:innen als einzigartig betrachtet werden („We know that no two listeners are alike“) und sie zudem aufgefordert werden, diese proklamierte Singularität/Einzigartigkeit auch nach außen zu präsentieren („and show it of to world“). Aus dem Zusammenschluss von Algorithmen, Computern, Digitalität und Internet ist ein technologischer Komplex entstanden, der eine andauernde Fabrikation von als einzigartig markierten Subjekten, Objekten und Kollektiven ermöglicht bzw. erzwingt. Digitale Technologien bilden damit eine allgemeine Infrastruktur, auf deren Grundlage sich die Herstellung von Singularitäten vollzieht.[ix] Der erwähnte Zwang wird dabei nicht aktiv vollzogen, sondern ist Teil der Ermöglichung der positiven Nutzung jener digitalen Infrastruktur. Will ich diese nutzen, bin ich gezwungen mich zu singularisieren, indem ich mir beispielsweise ein Profil anlege, durch das ich als digitales Subjekt sichtbar werde. Zugleich bin ich jedoch auch gezwungen, meine einzigartige Persönlichkeit innerhalb der vordefinierten Darstellungsformen der jeweiligen App zu entfalten. So ist die Zuordnung einer listening personalityper se nichts übermäßig besonderes, da eine solche für alle zahlenden Spotify-Nutzer:innen erstellt wird. Einzigartigkeit bzw. Singularität erlangt das digitale Subjekt vielmehr durch seine Eigenschaft als Knotenpunkt diverser Links, die auf die unterschiedlichen Profile des Subjekts verweisen. Singularität wird so kompositorisch aus dem Zusammenspiel der einzelnen Elemente (den einzelnen Profilen mit ihren jeweiligen Angaben zur Person, sowie Likes und Dislikes) gewonnen.[x] Wenn das digitale Subjekt aber Singularität durch einen kompositorischen Verweisungszusammenhang erlangt, dann ist es grundlegend relational strukturiert.

Die Figur Tom bzw. seine relationale Bindung zu Alma kann so auch als Ausdruck digitaler Subjekthaftigkeit gelesen werden. Tom ist das leibhaftig gewordene Produkt, der von Alma angegebenen Daten im Youbotlove-Fragebogen, darüber wie sie sich ihren (Selbstbezug) Idealpartner vorstellt. So heißt es dem entsprechend in Braslavskys Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (2019), welcher der gleichen Diegese wie „Ich bin dein Mensch“ angehört: „Berlin längst keine Stadt der Singles und Ausreißer mehr, hier fand man mit der Liebe zu seinem wahren Selbst und zeigte die Originalität seines Wesens durch die Wahl seines Partners.“[xi]

In Braslavskys Erzählung (und auch im Roman) wird damit die Struktur der kompositorischen Singularität um das Element der Hubots, als Superlativ des digitalen Profils, erweitert.

Bezüge zur Dystopie

Stefan Brandt, Direktor des Futuriums und Mitherausgeber der Anthologie 2029. Geschichten von morgen, fasst die Erzählungen des Bandes in seinem Vorwort als zumeist dystopische Kurzgeschichten[xii] zusammen. Ich würde dieser Zuordnung nur unter Vorbehalt zustimmen, da die sich vollziehende Veränderung der Gattung hier scheinbar nur wenig berücksichtigt wird. So fehlt Braslavskys Text das spezifische Verhältnis von Individuum und Kollektiv, in welchem das Individuum positiv oder negativ im Kollektiv aufgelöst wird. Generell gibt es in der Diegese von „Ich bin dein Mensch“ kein einheitliches Kollektiv. Das Ausbleiben eines solchen wird durch eine scheinbare Invertierung des Movens, wie es Richard Saage für die Dystopien Wir (1920), Schöne neue Welt (1932) und 1984 (1949) herausgearbeitet hat, erklärbar: Tatsächlich löst erst die erotische Hingabe das individuelle 'Ich' der Hauptakteure aller drei Romane aus dem kollektiven 'Wir' heraus und setzt die Dialektik von Nonkonformismus und Anpassung in Gang, die den Handlungsabläufen erst ihre Dynamik verleiht.[xiii]

In „Ich bin dein Mensch“ ist scheinbar das Gegenteil der Fall. Erst durch ihre Hingabe an Tom erfährt Alma ein kollektives Wir-Gefühl. „Seit sie mit Tom zusammen ist, erlebt sie Momente echter Erfüllung, sie erlebt jenes 'Wir', über das sie unzählige Artikel verfasst hat, […] er lässt keine Wünsche offen.“[xiv] Die Hingabe an eine Liebesbeziehung scheint so in jenes 'Wir' hinein statt heraus zu führen. Wie sich jedoch gezeigt hat, ist Tom Teil bzw. Ausdruck der selbstbezüglichen Welt Almas. So bleibt die Struktur, in welcher das individuelle Ich der Protagonistin durch ihre erotische Hingabe aus dem Kollektiv herausgelöst wird, erhalten. Dieses Kollektiv wird allerdings anders als in den erwähnten Dystopien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht als repressiv, sondern als erodierend dargestellt. Es löst sich auf in einen Zusammenwurf von Individuen, die sich zunehmend in ihrer algorithmisch basierten Selbstbezüglichkeit isolieren bzw. singularisieren. Es wird darüber ein Wandel innerhalb der Ausrichtung der Kritik deutlich: Weg vom repressiven Kollektiv der allgemeingültigen utopischen Konstruktion, hin zur zentralen Ausrichtung auf das einzelne Individuum und dessen digitalen Relationen. In der Kritik steht damit jenes liberale Denken, welches Joachim Fest 1991 in seiner Schrift zum vermeintlichen Ende des utopischen Zeitalters beschrieben hat. Das liberale Denken sei der utopischen Grundannahme überlegen, da es die Dinge auch vom Einzelnen her betrachtet würde und so nicht in eine absolute Ordnung verfalle. Zudem gebe es keine liberale Utopie.[xv] Aber vielleicht gibt es, angesichts der Texte Braslavskys, aber auch Sibylle Bergs (GRM und RCE), liberale Dystopien. Eine solche begriffliche Neuerung würde dem hier beschriebenen Wandel nur gerecht werden und wäre zugleich eine erste Antwort auf die Problematisierung des Begriffs der Dystopie, wie sie sich aktuell z.B. am Roman GRM. Brainfuck (2019) von Sibylle Berg vollzieht.

Liberale Dystopien, das ist der Punkt, auf den ich hinauswollte.

 

[i]Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, Frankfurt am Main 2016, S. 150.

[ii]Ebd.: S. 144.

[iii]Braslavsky, Emma: „Ich bin dein Mensch“, in: Brandt, Stefan; Gaderath, Christian; Hattendorf, Manfred (Hrsg.): 2029. Geschichten von morgen, Berlin 2019, S. 57.

[iv]Esposito, Elena: Artificial Communication. How Algorithms Produce Social Intelligence, Cambridge 2022, S.60.

[v]https://www.macerkopf.de/wp-content/uploads/2019/12/spotify_jahresrueckblick2019.jpg?x39206, letzter Zugriff: 25.03.23, 13:40 Uhr.

[vi]Esposito: Artificial Communication, S. 47.

[vii]https://www.newsroom.spotify.com/2022-wrapped/, letzter Zugriff: 25.03.23, 13:45 Uhr.

[viii]https://newsroom.spotify.com/2022-11-30/get-to-know-your-music-listening-personality-from-2022-wrapped/, letzter Zugriff: 25.03.23, 13:45 Uhr.

[ix]Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2021, S.227ff.

[x]Ebd.: S. 248-251.

[xi]Braslavsky, Emma: Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten, Berlin 2019, S.15f.

[xii]Brandt, Stefan: 2029. Geschichten von morgen, Berlin 2019, S. 12.

[xiii]Saage, Richard: „Die konstruktive Kraft des Nullpunkts. Samjatins Wir und die Zukunft der politischen Utopie“, in: Utopie Kreativ, Nr. 64, Februar 1996, S. 21.

[xiv]Braslavsky: „Ich bin dein Mensch“, S. 27.

[xv]Fest, Joachim: Der Zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991, S. 95f.

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