„Glitches – Verfahren der Ambiguitätsproduktion in der Gegenwartsliteratur“

Schreibweisen-Blog

Mit über 16 Millionen verkauften Einheiten in etwa einem halben Jahr ist der Titel Elden Ring bereits jetzt der Gaming-Hit des Jahres 2022. Das Open-World-Rollenspiel des japanischen Entwicklungsstudios From Software (in Zusammenarbeit mit dem Fantasy-Autor George R.R. Martin) bietet eine weitläufige, landschaftlich spektakuläre Welt, bevölkert von unheimlichen Figuren, die Spieler*innen in kryptischen Dialogen eine epische Story näherbringen. Etwa 50 bis 100 Stunden lässt sich diese Welt erforschen, bis der Abspann erreicht ist, es geht aber auch deutlich schneller: In der Speedrun-Community veranschlagen die Schnellsten etwa 5 bis 20 Minuten, um das Spiel durchzuspielen. Wie ist das möglich? Wer sich in die Materie einliest, wird konfrontiert mit Begriffen wie „Chainsaw Glitch“, „Wrong Warp“ oder „Flying Horse Glitch“. Zwar ist die Diegese von Elden Ring angesiedelt in „The Lands Between“, einem recht klassischen Fantasy-Universum, doch eine Figur, die auf einem fliegenden Pferd bzw. frei teleportierend natürliche Grenzen außer Kraft setzt und jeden Gegner in wenigen Sekunden besiegt, verstößt auch hier gegen die Spielregeln.

Grundlage dieser Regelbrüche sind „Glitches“: Fehler, die Lücken im Programmcode offenbaren und sich ausnutzen lassen, Aktionen und Eingaben von Spieler*innen, die die vom Designteam nicht für möglich gehalten oder beim Testen übersehen wurden. Egal ob sie zufällig oder intendiert hervorgerufen werden: Glitches stören bestehende Ordnungen. So lassen sie sich nicht nur produktiv machen, um ein Spiel besonders schnell durchzuspielen, sondern faszinieren, indem sie auf eine gewisse Weise hinter die Kulissen der Darstellung blicken lässt. Der österreichische Autor Clemens J. Setz schreibt Glitches daher eine gewisse „Poesie“ zu: „Vieles, was als moderne Erzählstrategie gilt, verläuft im Grunde entlang der Logik von Glitches: Fehler, Blasen, Verwerfungen im Gewebe der Wirklichkeit. Sie weisen darauf hin, dass die Parameter, nach denen wir existieren, alle veränderbar sind.“[1]

In einer postdigitalen Gegenwartsliteratur ist es kein Wunder, dass sich das Erzählen auch von solchen Phänomenen inspirieren lässt. Der Autor Juan S. Guse geht sogar so weit, von einem „glitch turn der deutschsprachigen Literatur“ zu reden, wenn er Rudi Nuss’ jüngst erschienenen Roman Die Realität kommtbespricht. Tatsächlich ist beobachtbar, dass sich Glitches gerade in den Texten jüngerer Autor*innen, die unter den Bedingungen der Digitalisierung aufgewachsen sind, einer gewissen Beliebtheit erfreuen. In den Texten von Nuss, Joshua Groß, Lisa Krusche oder Guse selbst sind Glitches an der Tagesordnung, zumindest auf Ebene der histoire. Doch wie kommt ein literarischer Text ins Glitchen, der anders als ein Computerspiel verfährt, das die Diegese in dem Moment prozessual hervorruft, in dem sie rezipiert (und interaktiv beeinflussbar) ist? Der Schreibakt geht der Lektüre eines Textes voraus, bereits die zeitliche Verortung eines Glitch-Moments der Störung fällt schwer.

Das Panel „Glitches – Verfahren der Ambiguitätsproduktion in der Gegenwartsliteratur“ stellt die Frage nach der Möglichkeit von Glitches als Verfahren literarischer Texte. Wie und wenn ja auf welcher Ebene kommt ein literarischer Text ins Glitchen? Was für Effekte zeitigt dieses Störmoment? In Orientierung am Thema „Mehrdeutigkeiten“ der Germanistentag 2022 stehen dabei die Ambiguitäten im Fokus, die als sich überlagernde Raumstrukturen, Gleichzeitigkeiten, Realitäten und Virtualitäten darstellbar werden, wenn man gegenwartsliterarische Texte im Kontext ihres kulturellen und medialen Entstehens betrachtet.

 

Teilnehmer*innen und Beiträge:

  • Philipp Ohnesorge (Greifswald), Prof. Dr. Eckhard Schumacher (Greifswald):
    Einleitung
  • Viktor Fritzenkötter (München):
    „Ein Text glit(s)cht aus – Zustände des Amorphen, Uneindeutigen und wie sie sich erzählen“
  • Vertr.-Prof. Dr. Tanja Prokić (München):
    „‚Wir selbst sind zu viel Dissonanz‘ – Glitch und Ambiguitätsmanagement“
  • Dustin Matthes (Greifswald):
    „Games als Glitches. Computerspiele als Zugänge zu literarischer Ambiguität“
  • Felix Maschewski (Berlin):
    „Der Glitch als ‚Ereignis des Verschwindens‘ und erzählerisches Formprinzip in Philipp Schönthalers Roman Der Weg aller Wellen
  • PD Dr. Andrea Schütte (Bonn/Berlin):
    „Glitches in der Gegenwartsliteratur“

Moderation: Dr. Elias Kreuzmair (Greifswald), Magdalena Pflock (Greifswald

Mehr zum Germanistentag 2022 in Paderborn und zum gesamten Tagungsprogramm ist hier zu finden.

Philipp Ohnesorge

 

[1] Clemens J. Setz: „Die Poesie der Glitches“. In: Logbuch Suhrkamp, o.J. www.logbuch-suhrkamp.de/clemens-j-setz/die-poesie-der-glitches/, zuletzt eingesehen am 6.9.2023.

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