SCHREIBWEISEN-BLOG

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Was war Literatur auf Twitter (ca. 2019)? Ein Werkstattbericht

Schreibweisen-Blog

Twitter hat sich nicht nur als Plattform literarischen Schreibens etabliert, sondern auch zu einem Ort entwickelt, an dem ein vielfältiges Gespräch über Literatur stattfindet. Um beide Phänomene in den Blick zu nehmen, haben wir im Rahmen des DFG-Projekts „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarischen Verfahren nach der Digitalisierung“ ein Korpus aus ca. 100 öffentlichen Twitter-Accounts aufgebaut und jeweils bis zu 3.000 Tweets in Textdateien abgespeichert, um sie genauer zu untersuchen. Die Accounts im Korpus haben aus verschiedenen Perspektiven – als Autor*innen, Kritiker*innen, Literaturwissenschaftler*innen – zum Gespräch über Literatur auf Twitter beigetragen. Insgesamt enthält das Korpus 219.450 Tweets mit 3.552.773 Wörtern. Die Tweets sind zwischen Juli 2009 und Februar 2020 entstanden, die meisten stammen aus dem Jahr 2019. Es geht weniger darum, mit dem Korpus zu bestimmen, was Literatur und was literarisches Schreiben ist und was nicht, sondern durch die Arbeit mit ihm neue Anstöße zu bekommen, um über Gegenwart, Literatur und Twitter nachzudenken. Im Folgenden werden in diesem Sinn einige Verfahren der digitalen Korpusanalyse experimentell angewandt, um eine erste Erkundungsreise durch das Korpus zu machen. Im Fokus steht das Stichwort „Literatur“.
 

Topics: Internet, Musik, Politik und Literatur

Um eine Übersicht über das Korpus zu bekommen, bietet sich das Topic Modeling nach Mallet an. Mit dem Verfahren werden durch machine learning Wortcluster erstellt, die im Idealfall die wichtigsten Themen angeben. Zunächst muss das Modell so angepasst werden, dass es für das Twitter-Korpus produktiv ist. Vor allem heißt das, eine Liste mit Stoppwörtern anzufertigen, die nicht in den Lernprozess einbezogen werden sollen. Adjektive und Adverbien in Clustern sind tendenziell weniger hilfreich als Substantive. Eine Besonderheit des Twitter-Korpus: Accountnamen. Da wir auch Replies mit aufgenommen haben, sind diese so häufig, dass das Programm sie mit bestimmten Themen assoziiert. Zwar kann man dann ablesen, wer mit wem über was diskutiert hat, das ist für uns aber vorerst nicht interessant. Folgern kann man aus der Wichtigkeit der Accountnamen in den Clustern, dass Twitter eben ein soziales Medium ist. Eigentlich alles, über das gesprochen wird, entsteht in einem sichtbaren sozialen Kontext, in dem aufeinander reagiert wird. Eine andere auffällige Sache: Unter den Wörtern, die aussortiert werden, sind auffallend viele, die der Zeichenbegrenzung auf Twitter geschuldet sind. Kontraktionen wie „aufs“ oder „liebs“ sind häufig, auch Abkürzungen wie „z.B.“ oder „evtl.“.

Nach einigen Probeläufen ergibt das Modeling 50 Topics, die von mir noch einmal nach Schwerpunkten geordnet werden. Die wesentlichen Themen in unserem Korpus sind das Internet, Musik, Politik und Literatur. Nebenthemen bilden Männer, Kinder und Deutsche. In Bezug auf das Internet lassen sich zwei Cluster erkennen. Einmal ist da das Kathrin-Passig-Cluster, es gibt Diskussion über Facebook, Wikipedia und das Urheberrecht und ernsthafte Einschätzungen zu Netzthemen. Ein Beispiel wäre ihre Dokumentation einer Diskussion auf dem Übersetzertag im November 2019: „Jetzt protestieren die Lektorinnen , dass ihre Leistung aber nicht geschützt ist, sie müssen ihr Urheberrecht vertraglich abtreten.“ Das andere Cluster bewegt sich um Accounts wie @marekverdammt, @burenheidl oder @slimtonii und hat eine Tendenz zur ironischen Selbstreflexion der eigenen Praxis im Netz. Etwa wenn der inzwischen suspendierte Account @slimtonii schreibt „Um das Loch in mir zu füllen reichen 2-3 hohle Sätze ins Internet pro Tag“ oder @marekverdammt „Es füllt meine innere Leere wenn ich was im Internet bestelle“.


Literatur und Feminismus

Im Literaturcluster werden verschiedene Aspekte von Literatur verhandelt. Es gibt ein Topic, an dem fast alle Accounts beteiligt sind. Es umfasst unter anderem folgende Worte: „Menschen Schreiben Buch Twitter Zeit Welt Jahre Mann Wissen Frauen Problem Jahr Arbeit Thema Angst Wort Text“. Es scheint um allgemeine Probleme des Schreibens zu gehen, die Reflexion von Literatur und Schreiben spielt auf Twitter und in unserem Korpus eine große Rolle. Ein ähnliches Topic gibt es noch einmal auf Englisch, hier sind vor allem @ChrisKloeble und @Magdarine aktiv. Überraschend klar lassen sich einzelne Zusammenhänge ausmachen: @sasa_s redet über Handke, den Nobelpreis und Zugteilungen in Hamm, die Startup Bubble mit @RitalinRikii, @StartUpClaus und @TanteUweLaden hat ebenfalls ein eigenes Topic, @HannesBajohr und @gre00r unterhalten sich über generative Literatur, @liaghtsout und @fraublod kümmern sich um die Twitter-Literaturszene in Österreich. Natürlich hat auch @SibylleBerg ihr eigenes Topic, genauso wie @RenateBergmann und @PGExplaining, die Präraffaelitischen Girls von Christiane Frohmann. Letztere drei Accounts, das lässt sich daraus folgern, schreiben sehr konsequent zu bestimmten Themen und haben dadurch starken Wiedererkennungswert. Relevante Hashtags sind #frauenlesen, das in zwei Topics vorkommt, auch #dichterdran und die Frohmann-Hashtags #umsehenlernen und #endclickbait sind zu finden. Bei #frauenlesen gibt es ein eher mit dem Literaturbetrieb – das Wort kommt auch vor – verknüpftes Topic und eines eher mit „Revolution“, das vor allem bei @f_tosse stark vertreten ist. Interessant ist insbesondere ein bei @Archiphilologus und @Chriskloeble zu findendes Topic, das von Schiller über Blake und Hölderlin zu Berit Glanz und Olga Tokarczuk führt. Eine kurze Recherche im Korpus führt zu einer Präzisierung: Mit „Blake“ ist beileibe nicht immer der Dichter William gemeint, auch seine Frau Catherine Blake und der Musiker James Blake werden diskutiert. Allgemein kann man beobachten, dass Literatur in unserem Korpus eine politische und vor allem eine feministische Angelegenheit ist, was Vorannahmen über den literarischen Diskurs auf Twitter belegt.

In einem weiteren Analyseschritt, der ebenfalls mit Hilfe von Topic Models arbeitet, werden Begriffe errechnet, die in einem ähnlichen Kontext wie „Literatur“ vorkommen. Neben Begriffen wie „Kunst“, „Dichtung“ oder „Übersetzung“ fällt auch hier der schon vorher festgestellte Schwerpunkt auf: Unter den errechneten Begriffen findet sich ebenfalls „feministische“ und „Feminismus“. Auffallend ist zudem, dass als einzige Großgattung die Lyrik vorkommt, die auch in „Dichtung“ anklingt. Ein erstes Zwischenfazit: Literatur auf Twitter ist eine soziale Angelegenheit, die meist Gegenstand von Diskussionen ist, die sich an eine Öffentlichkeit auch über Twitter hinaus richten. Beispiele wären hier die Handke-Debatte oder der Hashtag #dichterdran.


Literaturbetrieb, Literaturnobelpreis, Literatkritik

Sucht man im Korpus nach den häufigsten Komposita mit „literatur“ steht an erster Stelle der „Literaturbetrieb“, darauf folgt der „Literaturnobelpreis“, die „Literaturkritik“, das „Literaturhaus“ und der „Literaturwissenschaftler“. Alle Begriffe kommen aber höchstens in einem Viertel der untersuchten Accounts vor. Auffällig ist die wiederkehrende Formulierung „Ist das 1 Literatur oder 1 …“, die vor allem von @liaghtsout verwendet wird (im Sukultur-Verlag ist dazu inzwischen ein Bändchen erschienen). Nur drei Mal kommt sie von anderen Accounts. Interessant ist diese Formulierung, weil sie auf parodistische Weise die Frage nach Literatur auf Twitter stellt und damit eine Art der Selbstreflexion literarischen Schreibens auf der Plattform darstellt. Das häufigste Wort jenseits des Literarischen ist im Übrigen „ich“. Es wird allerdings von manchen Accounts wesentlich seltener verwendet als von anderen. Bei @StartupClaus taucht es 370 Mal auf (1,3 Prozent der Wörter), bei @renatebergmann, die es in absoluten Zahlen am häufigsten verwendet, dagegen 2.929 Mal (3,5 Prozent) und in Sarah Bergers Account @milch_honig sind 3,8 Prozent der Wörter „ich“. Kurios ist in dieser Hinsicht der Account @LaufendeE. In den im Korpus enthaltenen Tweets ist das Wort „ich“ kein einziges Mal zu finden. Bei allen anderen Accounts kommt es mindestens acht Mal vor.

Fragt man nach Formulierungen, fällt wieder @renatebergmann auf. Durch die Regelmäßigkeit, mit der sie ihre Follower mit „Hier schreibt Renate Bergmann, guten morgen“ begrüßt, enthält diese Formulierung mehrere der häufigsten 3-Gramme, das heißt der Folgen von drei Wörtern. Häufig sind daneben auch „zum ersten Mal“, „auf jeden Fall“ und „den ganzen Tag“. Offensichtlich ist Twitter ein geeigneter Ort um erste Male zu verkünden: „Zum ersten Mal den neuen Arbeitsweg mit dem Rad gefahren“, schreibt etwa @Wondergirl. @anousch berichtet: „30 Jahre nach dem Mauerfall war ich heute zum ersten Mal in einem McDonald’s-Drive-In [!].“ Clemens Setz hat „das Wort 'penisbezogen' heute überhaupt zum ersten Mal getippt“. Auch was man „auf jeden Fall“ oder „den ganzen Tag“ gemacht hat beziehungsweise machen wird, wird oft erzählt.

Durch das Tagging der Tweets mit einem Tagset kann man nicht nur nach bestimmten Wörtern und Emoticons (sogar getrennt nach Bild- und ASCII-Emoticons) suchen, sondern auch nach bestimmten Wortarten. Wieder ein Beispiel: Was wird im Korpus mit dem Adjektiv „literarisch“ bezeichnet? Am häufigsten taucht „literarisch“ als Attribut von „Text“ auf, auch in Kombination mit „Werk“, „Qualität“ und „Quartett“ ist es oft zu finden. Kurios sind „literarische Mösenvergleiche“, „literarisches Rotweinsaufen“ und der „literarische #spooktober“. Wie übrigens auch der „literarische Tweet“ sind sie jeweils nur einmal im Korpus zu finden. Eine große Gruppe bilden Ausdrücke, die der Analyse literarischer Texte dienen wie „literarische Figur“ oder „literarische Kriterien“, eine andere größere Gruppe solche Formulierungen, die sich auf den Literaturbetrieb beziehen, etwa „literarischer Preis“ oder auch, in einer ironischen Zuspitzung, „literarische Polizei“. Sucht man nicht nach Häufigkeiten, sondern nach solchen Ausdrücken, die nur einmal im Korpus vorkommen, stößt man auf idiosynkratische Formulierungen. So befürchtet @liaghtsout, sie werde an ihrer „work-literature-balance untergehen“, @kafkaesk beschäftigt sich mit „Wiener Schleimbeidlliteratur“ und @PGExplaning fragt sich: „Wie konnte man so lange Gefallen an betont bildungstriefender Sprachmacht-Literatur finden?“.


Korpus als Momentaufnahme

Das Korpus bildet eine Momentaufnahme. So lange es archiviert bleibt, werden wir wissen, wie im Jahr 2019 und etwas darüber hinaus, auf Twitter über Literatur gesprochen wurde. Nach und nach verloren gehen wird ein bestimmtes Hintergrundwissen, beispielsweise über die Accounts, das eigentlich eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit mit dem Korpus bildet. Einige der Accounts sind jetzt schon gelöscht. In dieser ersten Erkundung konnten einige Vorannahmen über das Gespräch über Literatur auf Twitter bestätigt werden: Auf Twitter findet ein an eine weitere Öffentlichkeit gerichtetes Gespräch über Literatur statt. Kaum ein Account beteiligt sich nicht am Austausch mit anderen. Im Fokus stehen dabei insbesondere Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Das Korpus bildet auf eine Weise Twitter als Ort eines permanenten „literarischen Quartetts“ ab, das wesentlich progressiver ausgerichtet ist als es sein Fernseh-Pendant je war. Das sprachliche Register der Tweets mag gelegentlich vulgär oder auch obszön sein, genauso oft sind aber reflektierte Auseinandersetzungen mit literarischen Texten und ihrer Qualität zu beobachten, wie man an den entsprechenden analytischen Begriffen ablesen kann. Die große sprachliche Bandbreite und die Kürze der Texte lassen Twitter als ein Medium erscheinen, das möglicherweise niedrigere Eingangsschwellen hat als andere. Auch wer sonst keinen Ort hat, über Literatur zu schreiben, oder wem das entsprechende Vokabular aus dem Proseminar nicht geläufig ist, kann sich hier äußern, beteiligen und in weitverzweigten Diskussionen Position beziehen.

Elias Kreuzmair

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